Ein "Fresser und Säufer" als Vorbild?
Während das Alte Testament eine Fülle von Speisevorschriften aufstellt, scheint das Thema im Neuen Testament an Bedeutung zu verlieren. So oder so steht jedenfalls fest: Zum Thema Fleisch hat die Bibel eine Menge zu sagen.
Die Schöpfungsgeschichte oder: Veganer im Paradies
Dass der Mensch über die Tiere herrschen soll, steht schon ganz am Anfang der Bibel in der Schöpfungsgeschichte: "Bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen" (Gen 1,28). Nach Ansicht des Bochumer Bibelwissenschaftlers Thomas Söding kann das aber nicht mit der Erlaubnis gleichgesetzt werden, auch Fleisch zu essen. Denn zur Ernährung heißt es in der Schöpfungsgeschichte (Gen 1,29): "Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen."
Die Bibel stellt es also so dar, dass die paradiesische Ernährung vegan war und statt aus deftigen Fleischplatten aus gesunder, leichter Kost mit Obst und Gemüse bestand. Jenseits von Eden wird es schwieriger. Es muss Ackerbau betrieben werden. Aber: "Über die Tiere zu herrschen, bedeutet in der agrarischen Gesellschaft des Alten Testaments nicht automatisch, Tiere zu verspeisen. Zunächst steht im Blick, Tiere als Arbeitstiere oder Haustiere zu halten, sie zu züchten und zum Beispiel die Felle zu Kleidern zu verarbeiten", erklärt Söding.
Gottes Bund mit Noach oder: Fleisch kommt auf den Speiseplan
Der Einschnitt in der Bibel kommt nach der großen Sintflut. Nachdem Noah und seine Arche mit den Tieren wieder an Land gekommen sind, verkündet Gott eine neue Nahrungsvorschrift: "Alles Lebendige, das sich regt, soll euch zur Nahrung dienen", verkündet er (Gen 9,3.). Damit ist das Vegetarier-Sein Geschichte. "Gott hat den Menschen nach dem Alten Testament erlaubt, Fleisch zu essen; diese Erlaubnis wird in der Bibel nicht zurückgenommen", weiß Bibelwissenschaftler Söding.
Gottes Bund mit Noach II oder: Detaillierte Speisevorschriften im Alten Testament
Doch sogleich folgt eine erste Einschränkung der gerade erteilten Erlaubnis: "Nur Fleisch, in dem noch Blut ist, dürft ihr nicht essen" (Gen 9,4). Söding nennt diese Anweisung "Bluttabu" und erklärt: "Blut ist ein Zeichen für das Leben, ein Zeichen für Gott, den Schöpfer. Wenn die Menschen auf Blutgenuss verzichten, dann um Gott als Schöpfer die Ehre zu geben und das Geheimnis des Lebens zu achten".
Wer im Alten Testament genauer nach dem Thema "Essen" sucht, findet noch viele weitere Speisevorschriften. Im Buch Levitikus sind typische Reinheitsgesetze festgehalten: "Alle Tiere, die gespaltene Klauen haben, Paarzeher sind und wiederkäuen, dürft ihr essen" heißt der Grundsatz (Lev 11,3), während in den folgenden Versen zahlreiche Ausnahmen aufgezählt werden wie Kamele, Klippdachse, Hasen und Wildschweine.
Im Buch Exodus findet sich die Regel, wegen der Juden heute noch Fleisch und Milch getrennt zu sich nehmen: "Das Junge einer Ziege sollst du nicht in der Milch seiner Mutter kochen" (Ex 34,26). "Im weiteren Verlauf der Geschichte Israels werden die Speisegebote immer wichtiger und detailreicher. Ethik spielt keine Rolle; es geht um die rituelle Unterscheidung, ob Fleisch rein oder unrein ist", erklärt Söding. Später habe man oft versucht, diese Regeln zu rationalisieren. "Aber das ist eine Projektion". Wichtig sei unter anderem der kulturelle Aspekt: "Durch die Art, wie sie sich ernährten, setzten sich die Juden von anderen Bevölkerungsgruppen ab", erläutert Söding. "Heute würde man von einem Alleinstellungsmerkmal sprechen". Nach wie vor befolgen orthodoxe Juden diese Regeln über Essen und Trinken.
Die Evangelien: Eine neue Interpretation
Dass Christen nicht ähnliche Speisevorschriften befolgen, sondern allenfalls an manchen Fastentagen etwa auf Fleisch verzichten, liegt an Jesus. In nur einem Satz erklärt er die bisherigen Speisevorschriften zu Fleisch für nichtig: "Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein" (Mk 7,14). Was der Mensch esse, gehe durch seinen Magen und werde später wieder ausgeschieden. Essen könne nicht unrein machen, weil es nicht ins Herz gelange. Ganz anders sei das mit "bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. All das Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein" (Mk 7, 21-22). Trocken kommentiert der Evangelist Markus die geradezu revolutionäre Reichweite seiner Sätze: "Damit erklärte Jesus alle Speisen für rein" (Mk 7,19). Dieser Ansatz unterscheidet das Christentum bis heute vom Judentum und auch vom Islam.
Die Evangelien: War Jesus selbst Vegetarier?
"Dass Jesus kein Fleisch gegessen hat, halte ich für sehr unwahrscheinlich", lautet die klare Einschätzung Södings. Schließlich habe Jesus Wein getrunken – und Alkoholkonsum sei in der Bibel oft mit Fleischkonsum verbunden. In den Evangelien nach Lukas und Matthäus werde überliefert, dass Jesus "als Fresser und Säufer, als Freund der Zöllner und Sünder" kritisiert worden sei. Das spreche nicht gerade für einen Vegetarier – im Unterschied zu Johannes dem Täufer, der in der Wüste von "Heuschrecken und wildem Honig" gelebt hat. Ein weiterer Hinweis ist das berühmte Gleichnis, in dem Jesus von einem verlorenen Sohn erzählt, nach dessen Rückkehr der Vater ein Mastkalb schlachtet (Lk 15,11-32).
Apostelbriefe: Paulinische Tradition
Und was war nach Jesus? Da verweist der Bibelwissenschaftler auf Paulus. Im ersten Brief an die Korinther werde klar, dass auch der Apostel den Konsum von Fleisch locker sieht: "Alles, was auf dem Fleischmarkt verkauft wird, das esst, ohne aus Gewissenhaftigkeit nachzuforschen" (1 Kor 10,25), heißt es da. Gleichzeitig fordert Paulus die Heidenchristen dazu auf, aus Respekt gegenüber den Traditionen der aus dem Judentum konvertierten Christen bestimmte Speisevorschriften einzuhalten. "In der Nachfolge Jesu wird die Frage nach der Ernährung also eine ethische. Es geht nicht mehr um die rituellen Kategorien von rein oder unrein wie noch im Alten Testament", erklärt Söding, "sondern um den dankbaren Genuss der Gaben des Schöpfers und um die Rücksichtnahme auf andere".
Das schreibt Paulus auch explizit im Brief an die Kolosser: "Darum soll Euch niemand verurteilen wegen Speise und Trank oder wegen eines Festes, ob Neumond oder Sabbat" (Kol 2,16). Eine Askese im Sinne eines vollkommenen Verzichts auf Sexualität, Alkohol oder Fleisch sei nicht im Sinne des Apostels, so interpretiert Söding. Und tatsächlich: Sich selbst zu sehr zurückzunehmen, bedenkt Paulus mit Spott: "Man sagt zwar […], es sei ein besonderer Kult, ein Zeichen von Demut, seinen Körper zu kasteien. Doch es bringt keine Ehre ein, sondern befriedigt nur die irdische Eitelkeit." (Kol 2,23).
Und heute?
Natürlich habe keiner der biblischen Autoren auch nur im Ansatz das heutige Ausmaß an Massentierhaltung und das damit verbundene Leid der Tiere erahnen können, sagt Thomas Söding. Ein Fleischverbot kann er aus der Bibel aber nicht herauslesen. Angewendet auf die Gegenwart, sind ihre Aussagen nach seiner Ansicht vielmehr ein Appell: "Die Bibel gibt den Menschen die Option, Fleisch zu essen, und appelliert gleichzeitig an sie, mit dieser Möglichkeit verantwortungsvoll umzugehen", erklärt er und schiebt gleich noch ein persönliches Bekenntnis hinterher: "Ich brauche wahrhaftig nicht jeden Tag Fleisch; aber ein Vegetarier bin ich nicht".