Ein Kirchenlehrer der Moderne
Frage: Herr Seewald, haben Sie Benedikt XVI. seit dem Erscheinen Ihres letzten gemeinsamen Interviewbuchs im September 2016 getroffen?
Seewald: Ja, ich habe ihn im Dezember besucht und werde nochmal im Mai hinfahren, wenn der Trubel um seinen 90. Geburtstag vorbei ist. Diese Treffen dauern rund eine Stunde und ich habe immer Fragen im Gepäck, denn die Menschen wissen immer noch viel zu wenig über Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. So kommt es eigentlich nie zu einem klassischen Plausch. Jede Begegnung ist auch immer ein Arbeitstreffen. Wir sind ja keine Freunde geworden. Für meine journalistische Arbeit ist die kritische Distanz unerlässlich; Hofberichterstattung hat keinen Wert.
Frage: Wie geht es dem emeritierten Papst? Was treibt ihn rum?
Seewald: Er antwortet auf die Frage immer mit einem „wie es einem alten Mann halt so geht“. Man sieht natürlich, dass er gebrechlicher geworden ist. Er ist bei Begegnungen geistig ganz da, spricht aber inzwischen etwas langsamer und hat natürlich nicht mehr ganz das Elefantengedächtnis, das ihm früher zur Verfügung stand. Wenn man ihn trifft, spürt man die Aura seines unvergleichlichen Lebenswegs und seiner Demut und Milde.
Frage: Sie haben für insgesamt vier Bücher lange Interviews mit Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. geführt – in einem Zeitrahmen von 20 Jahren. Was hat sich an der Person in der Zeit geändert?
Seewald: Unsere erste Begegnung für ein Porträt fand 1992 statt. Also darf ich ihn sogar schon ein Vierteljahrhundert journalistisch begleiten. In so einer langen Zeit konnte ich viele kritische Dinge nachprüfen, etwa das Bild des „Panzerkardinals“: Keiner, der ihn kennt, würde dieses Bild bestätigen.
An seiner Person hat sich immer nur das Alter geändert – und die neuen Aufgabenstellungen etwa als Erzbischof, Kardinal in der Glaubenskongregation und als Papst. Ratzingers Leben ist von einer unglaublichen Konstanz geprägt. Die ersten Predigten, die er als Student schrieb, beinhalten schon das, was er in den folgenden Jahrzehnten auch verkündet hat. Ich habe keine großen Brüche festgestellt und halte die Theorie von zwei Ratzingers, einem früheren modernen, der später konservativ und reaktionär wurde, für eine Legende. Außer Hans Küng würde wohl niemand unterstreichen, dass es einen theologischen Bruch gab. Es gibt allerdings einen Ratzinger, wie ihn die Medien zeichnen und einen anderen, der er wirklich ist. Die Papstwahl und das Amt konnten das der Welt eindrucksvoll vor Augen führen.
Frage: Was hat er der Welt mitgegeben?
Seewald: Im Gegensatz zu fast allen anderen Päpsten, gibt es bei Ratzinger eine Bedeutung, die er nicht nur aus seiner Amtszeit bezieht. Sein Werk war bereits vor dem Pontifikat wegweisend. Zu seinem Vermächtnis gehört, dass er die Menschen in einer Zeit der Gottferne wieder zur Barmherzigkeit Jesu Christi führen wollte – ohne dabei die biblischen Mahnungen und Gebote zu unterschlagen. Benedikt hat das Pontifikat in dem Bewusstsein angepackt, dass ihm nur wenige Jahre bleiben und dass er beim Dringendsten anfangen muss. Angesichts des Niedergangs des Christentums in der westlichen Welt war ihm die Erneuerung und Festigung des Glaubens am wichtigsten. Er sagt, sein Grundimpuls sei, unter den Verkrustungen den eigentlichen Glaubenskern freizulegen. Organisatorische Dinge hat er hintenan gestellt und für leere Gesten und Effekthascherei war Ratzinger ohnehin nie zu haben.
Frage: Was ist für Sie das größte Vermächtnis von Benedikt XVI.?
Seewald: Sein Vermächtnis ist die Erneuerung des Glaubens, dass er uns den ganzen Jesus gezeigt hat – den historischen und den Jesus des Glaubens. Ratzinger ist ein bedeutender Intellektueller, ein großer Vordenker unserer Zeit und ich kann mir vorstellen, dass er in Zukunft als der „Kirchenlehrer der Moderne“ bezeichnet werden wird. Er überzeugt nicht nur mit seiner Weisheit, sondern auch mit seiner Authentizität und dem persönlichen Beispiel seines Lebens. Und in der heutigen Zeit muss man betonen, dass Ratzinger der Antipopulist schlechthin ist. Ihm ging es nie darum, was gerade die Mode oder die Medien wollten, sondern darum, was Gott will. Wo es heute nur um Show und Emotion geht und Fakten nichts zählen, haben wir in Ratzinger einen Mann, der sich zuallererst der Wahrheit und der Botschaft des Evangeliums verpflichtet sah.
Frage: In den letzten Jahren sind unter den Titeln Ihrer Interview-Bände „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ eher die historischen Romane von Daniel Wolf bekannt. Wurmt Sie das?
Seewald: Nein, es kann ja jeder schreiben, was er will. Die Nachfrage nach diesen Büchern zeigt, dass es ein ungebrochenes Interesse an der katholischen Kirche gibt, die immer auch geheimnisvoll ist. So etwas stößt mir nur auf, wenn historische Romane durch eine ideologische Brille geprägt sind und Fakten manipuliert werden. Außerdem muss man über Deutschland hinaus schauen: Meine vier Interviewbücher mit Ratzinger/Benedikt sind in über 30 Sprachen übersetzt worden, haben weltweit Millionenauflagen. Man muss sich von der Vorstellung trennen, als würde sich niemand für ihn interessieren oder als hätte er keine Anhänger. Die „Letzten Gespräche“ mit ihm landeten sofort auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste. Da kann ich nicht meckern.
Frage: An dem von Ihnen erwähnten Interviewband „Letzte Gespräche“, das im September 2016 erschienen ist, gab es auch Kritik: An Benedikt und daran, ob das Buch nicht Geschichtsschreibung betreiben wolle. Was entgegnen Sie darauf?
Seewald: Das muss man differenziert sehen. Zuerst sollte man – gerade in Deutschland – zuhören, was der emeritierte Papst uns zu sagen hat. Zum anderen kann ich nachvollziehen, dass es Bedenken gab, warum er nochmal in die Öffentlichkeit tritt, aber das habe ich im Vorwort des Buches erklärt: Die Interviews waren zunächst nicht für ein eigenständiges Buch gedacht, sondern als Information für die Arbeit an einer Biografie. Ich konnte Benedikt aber überzeugen, den Text zu veröffentlichen, weil die Spekulationen und Verschwörungstheorien über seinen Rücktritt noch immer gewaltig waren. Ich fand es wichtig, dass ein solch historischer Schritt noch einmal erklärt wird, und zwar von der Person, die ihn vollzogen hat.
Ich finde auch, dass die Kritik von einigen genutzt wurde, um den deutschen Papst noch einmal einen vor den Karren zu fahren. Da wurde sogar behauptet, der emeritierte Papst würde selbstgefällig sein. Dabei ist das ganze Buch ein Ausdruck seiner Demut und Selbstkritik. Noch nie hat ein Papst sich so selbstkritisch über seine Arbeit geäußert. Es ist ein wichtiges Buch und eine große Chance, auf eine Jahrhundertbiografie des ersten deutschen Papstes seit 500 Jahren zurückzublicken.
Frage: Beim Stichwort Demut fragen Theologen immer wieder an, warum ein emeritierter Papst weiterhin mit „Heiliger Vater“ angeredet werden soll und weiße Papstgewänder trägt…
Seewald: Also, wenn man nichts Besseres zu tun hat… Das ist eine typisch deutsche Meckerei und Besserwisserei. Ich verstehe nicht, warum man sich nicht mit den Inhalten auseinandersetzt und ob er nicht vielleicht mit einigen Aussagen Recht hat. Wer dem emeritierten Papst vorschreiben möchte, wie er sich nennen lassen und anziehen soll, sollte sich Gedenken machen, ob ein Joseph Ratzinger nicht vielleicht über das Wesen des Papsttums besser Bescheid weiß, als man selbst und niemand anderer besser geeignet wäre, hier die richtigen Maßstäbe zu setzen. Es ist ja ein Novum und es gibt kein Beispiel, wie ein emeritierter Papst weiterzuleben hat.
Frage: Was wünschen Sie Benedikt zum 90. Geburtstag?
Seewald: Der emeritierte Papst ist kein Rentner, der jetzt Rosen züchtet, sondern ist weiter für die Kirche da und trägt ihre Sorgen durch das Gebet mit. Mit seiner umfangreichen Korrespondenz und den vielen Besuchen hat er für einen 90-Jährigen leider ein noch straffes Programm. Ich wünsche ihm noch ganz, ganz viele sonnige Tage bei guter Gesundheit und dann eine gute Sterbestunde. Vor allem wünsche ich ihm viele Nachahmer, die sich von seinem Werk, seiner Botschaft, seiner Gottes- und Menschenliebe, seiner Poesie, und von seinem authentischen Leben in der Nachfolge Christi inspirieren lassen und auf diese Weise ihren ganz eigenen Weg zu Gott finden. Ich schließe mich da Papst Franziskus an, der sagte, Benedikt XVI. sei ein großer Papst gewesen, dessen Geist von Generation zu Generation immer größer und mächtiger in Erscheinung treten wird. Hoffen wir, dass seine Arbeit auch in seiner Heimat so gewürdigt und wertgeschätzt wird, wie sie es verdient. Bei ihm wusste jeder, dass das, was er verkündet – auch wenn es unbequem oder nicht zeitgemäß erscheinen mag –, immer verlässlich der Lehre des Evangeliums entspricht und in Kontinuität zur Lehre der Kirchenväter und der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils steht. Diese Verlässlichkeit ist in einer Zeit des Umbruchs und der Orientierungslosigkeit von unschätzbarem Wert.