"Ein soziales und kulturelles Grabmal"
Seit Jahrzehnten hielten sich Gerüchte. Immer wieder berichteten spielende Kindern und Bauarbeiter von Knochenfunden auf dem Gelände des ehemaligen Mutter-Kind-Heims im westirischen Tuam. Die Bewohner der Kleinstadt vermuteten schon lange ein unmarkiertes Massengrab. Doch waren es tatsächlich verscharrte Kinderknochen aus dem Heim oder nicht doch Überreste von Opfern der großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts?
796 Totenscheine - nur eine beurkundete Bestattung
Lokalhistorikerin Catherine Corless ging den Gerüchten nach. Sie fand heraus, dass in dem von einem katholischen Frauenorden betriebenen Heim zwischen 1925 und 1961 insgesamt 796 Totenscheine für Babys ausgestellt worden waren. In diesen 36 Jahren gab es jedoch lediglich eine beurkundete Bestattung. Am vergangenen Freitag veröffentlichte die staatliche Kommission zur Untersuchung der Mutter-Kind-Heime eine Erklärung zu den Ergebnissen zweier Probeausgrabungen.
Seither ist es grausige Gewissheit: Kinderleichen wurden von den Schwestern des Bon-Secour-Ordens achtlos in einer Klärgrube und unteririschen Kammern entsorgt. Bei Probeausgrabungen wurden laut Kommission "erhebliche Mengen" menschlicher Überreste gefunden. Um wie viele Kinder es konkret geht, steht noch nicht fest. Fest steht aber, dass es sich bei den gefundenen Knochen um die Überreste von Föten und Kindern im Alter von bis zu drei Jahren handelt. Ihr Todeszeitpunkt lasse sich auf den Zeitraum zwischen 1925 und 1961 eingrenzen, als das Mutter-Kind-Heim betrieben wurde.
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Der Erzbischof von Tuam, Michael Neary, sagte der "Irish Times", er sei "entsetzt und traurig".
Kirche, Staat und die irische Gesellschaft zeigen sich entsetzt. Der irische Premierminister Enda Kenny bezeichnete das Massengrab als eine "Kammer des Schreckens", der Erzbischof von Tuam, Michael Neary, zeigte sich von der Größenordnung des Funds schockiert und die Vereinigung katholischer Priester Irlands (ACP) bekannte "Traurigkeit und Scham".
Doch Tuam ist wahrscheinlich kein Einzelfall, glaubt Paul Redmond, der Vorsitzende der Vereinigung der Überlebenden der Mutter-Kind-Heime. Für ihn ist es "nur die Spitze des Eisberges". Seinen Berechnungen zufolge kamen mindestens 6.000 Kinder in den neun Heimen des Bon-Secours-Ordens ums Leben. Untersuchungen in größeren Heimen wie St. Patrick's und Bessboro dürften seiner Meinung nach noch Schlimmeres ans Licht bringen. Er sieht die Kommission zur Untersuchung der Mutter-Kind-Heime daher in der Pflicht, weitere Ausgrabungen zu genehmigen und die Untersuchungen auszuweiten.
Hohe Kindersterblichkeit in Mutter-Kind-Heimen
Seit Anfang 2015 beschäftigt sich die staatliche Kommission unter Leitung der renommierten Richterin Yvonne Murphy mit zweifelhaften Vorgängen in 14 irischen Mutter-Kind-Heimen und vier Sozialeinrichtungen, den sogenannten County Homes. Zentrale Themen sind die Bedingungen für die Unterbringung von Frauen und Kindern ebenso wie die hohe Kindersterblichkeit in den Heimen. Fast ein Drittel aller in Tuam geborenen Kinder erlebte den ersten Geburtstag nicht.
Neben Bestattungspraktiken untersucht das Gremium, wie man mit Adoptionen verfuhr und was es mit medizinischen Versuchen, etwa Tests zu Impfstoffen, in den Heimen auf sich hatte. Im Untersuchungszeitraum von 1922 bis 1998 lebten insgesamt rund 35.000 Frauen in solchen Einrichtungen. Der Abschlussbericht der Kommission wird im Februar kommenden Jahres erwartet. Doch schon seit September 2016 liegt der irischen Ministerin für Kinder und Jugend, Katherine Zappone, ein Zwischenbericht vor, dessen beschleunigte Veröffentlichung nun vehement gefordert wird.
Derweil tobt in Irland die Diskussion um die Schuld am Massengrab. Die Vereinigung katholischer Priester in Irland betonte, die Kirche müsse aufgrund der herausgehobenen Position, die sie zum Zeitpunkt des Geschehens in dem katholisch geprägten Land innehatte, einen großen Teil der Verantwortung übernehmen. Doch auch Gesellschaft und Staat müssten sich angesichts der verübten Stigmatisierung unehelicher Kinder und ihre Mütter eine Komplizenschaft eingestehen, sagte Premierminister Kenny am Dienstag vor dem Unterhaus.
Tuam sei ein "soziales und kulturelles Grabmal", so Kenny. Die Gesellschaft habe ihr Mitgefühl und ihre Barmherzigkeit für ein "morbides und krankhaftes Streben nach Ehrbarkeit" begraben und diese Kinder aufgegeben. Niemand dürfe sich etwas vormachen: "Keine Nonnen sind in unsere Häuser eingebrochen, um unsere Kinder zu entführen."
Erzbischof: Würdige Bestattung muss Priorität haben
Ein Gerichtsmediziner soll nun eine Empfehlung dazu aussprechen, was mit den Knochenfunden aus Tuam passieren soll. Der Erzbischof von Tuam betonte, eine würdige Bestattung der sterblichen Überreste müsse Priorität haben. Doch selbst unter ehemaligen Heimbewohnern sei eine Exhumierung und Umbettung der Kinder umstritten, so der Überlebenden-Sprecher Redmond. Dass es zu strafrechtlichen Ermittlung kommt, halten Polizeiquellen für höchst unwahrscheinlich, da es einen begründeten Verdacht auf ein Verbrechen geben müsse.
Ehemalige Heimbewohner warten indes auf eine offizielle Entschuldigung der Kirche und des Staates, in deren Auftrag die Ordensgemeinschaften tätig waren. Im irischen Unterhaus wurde am Dienstag angedeutet, dass eine offizielle Entschuldigung zur Diskussion steht. Die Irische Bischofskonferenz äußerte sich am Mittwochabend im Rahmen ihrer Vollversammlung. Es gehe nun darum, sich der Vergangenheit zu stellen und aufzuklären, was geschehen sei. Die katholische Kirche unterstütze die Arbeit der Untersuchungskommission, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung.
09.03.2015, 13.00 Uhr: ergänzt um die Statements der irischen Bischöfe