Ein Staatsmann geht
Bundesweite Bekanntheit erlangte der damalige Hamburger Innensenator spätestens durch die Sturmflut 1962. Angesichts von 20.000 vom Hochwasser eingeschlossenen Menschen forderte der SPD-Politiker Bundeswehr und NATO an, um auch mit Soldaten und Hubschraubern für schnelle Hilfe zu sorgen. Dass er verfassungsrechtlich dazu gar nicht befugt war, störte den späteren Bundeskanzler wenig. Sein entschlossenes, unorthodoxes Handeln in einer Notlage bescherte "Schmidt Schnauze", wie der glänzende Rhetoriker auch von politischen Gegnern genannt wurde, breite Anerkennung. 1955 zog Schmidt erstmals in den Bundestag ein, kehrte 1961 in den Senat seiner Heimatstadt zurück. Ab Mitte der 1960er-Jahre richtete er sich dauerhaft in der Bundespolitik in Bonn ein. Nach dem Rücktritt Willy Brandts 1974 wurde Schmidt Bundeskanzler.
Seine Regierungszeit war vor allem geprägt von der Rüstungsdebatte um den Nato-Doppelbeschluss und den "Deutschen Herbst" 1977. Damals sah sich Schmidt durch die Rote Armee-Fraktion (RAF) vor bittere Entscheidungen gestellt. Da sich der Kanzler nicht auf die Freipressung inhaftierter Terroristen einließ, "opferte" er den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Noch Jahrzehnte später sagte Schmidt, er fühle sich verstrickt in Schuld. Im September 1982 scherte die FDP aus der Regierungskoalition aus; Helmut Kohl (CDU) löste den Hanseaten ab.
Eine Instanz für viele Deutsche
Für viele Deutsche war der am 23. Dezember 1918 in Hamburg geborene Schmidt eine politisch-moralische Instanz, die oft spröde und unnahbar, als betagte Persönlichkeit aber auch zunehmend menschlich daher kam. Zwar hatte er sich als junger Mann für zwei Jahre zur Wehrmacht verpflichtet, doch tat er das laut eigenem Bekunden nur, um anschließend "in Ruhe" Architektur studieren zu können. Der Plan zerstob allerdings mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs; später nahm er ein Volkswirtschaftsstudium auf. Die Nazis hielt er schon früh für "Verbrecher". Sein Vater Gustav (1888-1981), Volksschullehrer und Leiter einer Berufsschule, erzog ihn mit protestantischer Strenge. Dass Gustav unehelicher Sohn des jüdischen Privatbankiers Ludwig Gumpel und einer Kellnerin war, blieb während der NS-Zeit ein angstvoll gehütetes Familiengeheimnis.
Schmidt selbst blieb zeitlebens Protestant, wenngleich der begeisterte Pianist und Organist einmal bekannte, er sei ein "sehr distanzierter Christ". Doch er bleibe in der Kirche, "weil Traditionen nützlich sind". Die Kirchen gehörten zum Kitt, "der die Gesellschaft zusammenhält". Auf Kirchentagen etwa legte er rhetorisch brillant und philosophisch belesen seine Position einer politischen "Verantwortungsethik" dar, die er gegen die bedingungslose Tugendhaftigkeit der "Gesinnungsethiker" - das Schimpfwort "Gutmensch" war damals noch nicht erfunden - verteidigte.
"Der gute Papst" war ein Vorbild
Letztlich war sein Eintritt in die SPD 1946 von Hans Bohnenkamp motiviert, der ihm während der englischen Gefangenschaft seine Sicht eines christlich geprägten Sozialismus, im Gegensatz zum Kommunismus, nahebrachte. Als eines seiner Vorbilder nannte Schmidt Konzilspapst Johannes XXIII., dessen Toleranz ihn "ganz besonders angezogen" habe.
Der wichtigste Mensch in Schmidts Leben war zweifellos seine Frau Hannelore, mit der er 68 Jahre verheiratet war. An "Loki" pries er vor allem ihre Menschenkenntnis, Warmherzigkeit und "absolute Zuverlässigkeit". Als sie im Oktober 2010 starb, sei er "völlig zerstört" gewesen. Eine Krise hat es in ihrer langen Beziehung gegeben: eine Affäre Ende der 60er Jahre, die Schmidt ein halbes Jahrhunder später öffentlich beichtete. Lokis Sicht auf die letzten Dinge hat sich ihr Ehemann zueigen gemacht: Mit dem ewigen Leben habe die Naturschützerin nichts anfangen können, doch sei sie überzeugt gewesen, es gehe durch den Tod kein Atom und kein Molekül verloren. Das mag tröstlich klingen, Helmut Schmidts personale Anwesenheit in der Welt aber wird fehlen.
Kardinal Marx würdigt Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, hat den verstorbenen Bundeskanzler a. D. der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, als "einen Politiker mit Weitblick und Klugheit und einen überzeugten Europäer" gewürdigt. Im Namen der Deutschen Bischofskonferenz sprach Kardinal Marx dem SPD-Parteivorsitzenden, Bundesminister Sigmar Gabriel, seine Anteilnahme aus.
"In dieser Stunde des Abschieds verneigen wir uns vor einem Bundeskanzler, der dem Glauben und der Religion mit Sympathie und Respekt begegnete. Wir sind dankbar für einen großen Staatsmann und werden an den Verstorbenen und seine Familienangehörigen im Gebet denken", so Kardinal Marx in der Kondolenz.
"Der Verstorbene stand den Kirchen unseres Landes stets nahe und setzte besonders hohe Erwartungen in sie als moralische und gesellschaftliche Impulsgeber. Wir sind dankbar, dass Helmut Schmidt in den vielen Jahren seines politischen Lebens immer wieder öffentlich betont hat, dass sein Wirken durch das christliche Menschenbild geprägt sei", so Kardinal Marx.
Dank des entschiedenen und persönlichen Einsatzes von Bundeskanzler Schmidt habe die Bundesrepublik Deutschland die Wirtschaftsrezession der 1970er Jahre auf insgesamt gute Weise überstanden. Existenziell und als politisch-moralisch geprägte Persönlichkeit sei der Bundeskanzler in der Zeit des RAF-Terrors gefordert worden und habe damals auch schwerwiegende Entscheidungen fällen müssen, die ihn noch viele Jahre lang belastet hätten. Mit Freimut und der Bereitschaft auch zu Unpopulärem betrieb er eine Sicherheits- und Abrüstungspolitik, die letztlich zu großen Erfolgen führten, erinnert Kardinal Marx in der Würdigung.
Das Zusammenwachsen Deutschlands als Teil eines vereinten Europas sei ihm so wichtig gewesen, dass er die "Deutsche Nationalstiftung" gründete, deren Ehrenvorsitzender er bis zu seinem Tod war. Durch die persönliche Freundschaft mit Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing verbesserte er die deutsch-französischen Beziehungen nachhaltig und trug vielgestaltig zu einer Stabilisierung Europas bei.
"Helmut Schmidt suchte immer wieder den Dialog mit den Kirchen. Wir haben ihn als offenen und ehrlichen Gesprächspartner erlebt", so Kardinal Marx.