Syrisch-orthodoxer Bischof zur schwierigen Lage seiner Kirche

"Ein zweiter Genozid"

Veröffentlicht am 28.03.2015 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Eine Hand hält ein Kreuz.
Bild: © KNA
Syrien

Jerusalem ‐ In 2015 jähren sich die im damaligen Osmanischen Reich verübten Massaker an den Armeniern zum 100. Mal. Dass zu den Opfern der Übergriffe zwischen 1915 und 1918 auch zahlreiche Christen syrischer Tradition gehören, ist weitgehend unbekannt. Im Interview in Jerusalem spricht der syrisch-orthodoxe Patriarchalvikar für Palästina, Israel und Jordanien, Bischof Severios Malke Mourad, über die Verbrechen der Vergangenheit und einen "zweiten Genozid" an den Christen im heutigen Syrien .

  • Teilen:

Frage: Bischof Severios, beim Genozid von 1915 denken die meisten Menschen an die Armenier. Warum weiß kaum jemand, dass auch Christen syrischer Tradition dieses Schicksal erlitten?

Bischof Severios Malke Mourad im Porträt
Bild: ©KNA

Bischof Severios Malke Mourad, syrisch-orthodoxer Patriarchalvikar für Jerusalem und Jordanien.

Severios: Ein Grund sind die ständigen Kriege, alle 20, 30 Jahre. Die Christen syrischer Tradition sind mit jedem Krieg umgesiedelt. Sie hatten nie wirklich die Chance oder die Zeit, sich niederzulassen und zu organisieren. Die Armenier haben ein Land, eine Regierung, einen Präsidenten. Sie haben eine politische Struktur, sind sehr viel stärker organisiert und können so auch mehr Druck machen. Das haben die Syrer nicht. Ein zweiter Grund sind die Christen syrischer Tradition, die in der Türkei leben. Wir wollen keinen Druck machen, der ihnen schaden könnte.

Frage: Spielt das Gedenken an den Genozid eine Rolle?

Severios: Auch wenn wir erst seit 1984 den 24. Nisan (April) gemeinsam mit den Armeniern offiziell als Gedenktag begehen, war das Gedächtnis des Genozids immer präsent. Insbesondere in den vergangenen zehn Jahren sehen wir verstärkte Bemühungen um den Gedenktag. Angesichts der schwierigen Situation im Heiligen Land ist das Gedenken allerdings schwierig. In den USA, Schweden oder Deutschland machen unsere Kirchen Druck für eine politische Anerkennung des Genozids.

Frage: Wie hat sich der Genozid auf die Jerusalemer Gemeinschaft ausgewirkt?

Severios: Die Pilger, die sich in Jerusalem aufhielten, blieben hier. Andere sind hierher, nach Bethlehem oder nach Jordanien geflohen. In vielen Fällen war Jerusalem für die Flüchtlinge eine Etappe auf dem Weg in die USA oder nach Europa.

Frage: Wie groß ist Ihre Gemeinschaft heute?

SeverIos: In Israel, Palästina und Jordanien zählen wir 10.000 Gläubige. In Jerusalem sind es noch 1.000. Jedes Jahr wandern Gläubige ab. Insbesondere seit 1948 gab es mit jedem Krieg und den beiden Intifadas eine Abwanderungswelle.

Frage: Haben Sie mit Blick auf die Ereignisse in Nordsyrien den Eindruck, die Geschichte wiederholt sich?

Severios: Es ist ein zweiter Genozid . Im Vergleich zu 1915 sorgen heute die modernen Kommunikationsmittel dafür, dass die Information quasi "live" übertragen wird. Das Problem ist aber, dass keiner zuhört; nicht Amerika, nicht Europa. Jeder handelt in seinem eigenen Interesse. Ob Christen hier sterben oder nicht, interessiert nicht. In Syrien zum Beispiel stehen alle Kirchen hinter Präsident Baschar als Assad. Die USA und Europa sind gegen Assad. Christen geraten damit zwischen alle Stühle.

Frage: Wie sehen Sie vor dem aktuellen politischen Hintergrund die Zukunft Ihrer Gemeinschaft in Jerusalem?

Severios: Für Christen aus arabischen Ländern ist es schwierig, hierher zu kommen, aber für jene, die einen europäischen oder einen US-amerikanischen Pass haben, ist Jerusalem oft das erste Reiseziel.

Frage: Sie kommen als Pilger. Aber wie kann die Gemeinde vor Ort am Leben erhalten werden?

Severios: Wir sind vor allem auf uns selbst angewiesen. Das reicht natürlich nicht, wir brauchen Hilfe von außen, vor allem finanziell. Aber hier ist es immer noch besser als in anderen Ländern um uns herum. Aus Syrien oder dem Irak fliehen unsere Christen in den Westen. Seit dem Arabischen Frühling sind unsere Gemeinden in Europa sicher zahlenstärker als im Nahen Osten. Auch von hier hält die Abwanderung an, aber weniger stark als zu Kriegszeiten.

Frage: Haben Sie Angst, dass die Gemeinden außerhalb des Nahen Ostens durch Anpassung ihre Identität verlieren?

Severios: Wir haben einen Verlust von rund zehn Prozent in jeder Generation. Ich nenne das die "Auswanderungssteuer". Die gute Seite der Abwanderung ist aber: Wenn immer mehr abwandern, dann werden die Auslandsgemeinden stärker und der Zusammenhalt wächst.

Das Interview führte Andrea Krogmann (KNA)