Theologe Herbert Haslinger über die Vorurteile kirchlicher Amtsträger

"Eine Reaktion auf den eigenen Machtverlust"

Veröffentlicht am 28.07.2016 um 00:01 Uhr – Von Björn Odendahl – Lesedauer: 
Kirche

Paderborn ‐ Fehlt Priestern eine Grundsympathie für die Menschen? Der Theologe Herbert Haslinger spricht mit katholisch.de über Vorurteile, veraltete Priesterbilder und das schwierige Wort "Berufung".

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Frings kritisierte, dass von den Kirchenmitarbeitern Perfektion und bedingungslose Serviceorientierung erwartet wird. Das will der Paderborner Pastoraltheologe Herbert Haslinger so nicht stehen lassen. Im Interview mit katholisch.de übt er seinerseits Kritik an Priestern, die die Schuld an ihrer unbefriedigenden Situation bei anderen suchen. Er fordert sie auf, endlich wieder Seelsorger zu sein und auf Machtausübung zu verzichten.

Frage: Herr Haslinger, in einem Gastbeitrag der "Herder Korrespondenz" schreiben Sie, dass es Priestern an einer "Grundsympathie für die Menschen" fehle. Was meinen Sie damit?

Haslinger: Ich schreibe in meinem Beitrag den Mangel an Grundsympathie nicht speziell den Priestern zu, sondern den verschiedenen kirchlichen Funktionsträgern. Außerdem ist mir vorweg wichtig: Es geht mir hierbei nicht um ein Pauschalurteil. Ich kenne viele kirchliche Amtsträger, die hervorragende Seelsorger sind, die den Dienstcharakter des Amtes ernst nehmen und von denen ich als Theologe sehr viel gelernt habe. Dieser Anteil des pastoralen Personals stellt vermutlich noch die Mehrheit. Aber es gibt eine nicht geringe Zahl an kirchlichen Kräften, die den heutigen Menschen von vornherein in einer misanthropischen Grundhaltung, also mit Vorbehalten und Vorurteilen begegnen. Sie werfen ihnen vor, nur noch individualistisch, konsumorientiert oder unmoralisch zu sein, oder lamentieren darüber, dass sich die Menschen nicht mehr wie früher an die Vorgaben der Kirche halten wollen. Die Menschen spüren dabei natürlich, dass ihrer Lebensform eben nicht Anerkennung und ihrer Person eben nicht Wertschätzung entgegengebracht wird.

Frage: Ist das nicht ein sehr subjektiver Eindruck Ihrerseits?

Haslinger: Ja, es ist erst einmal meine persönliche Wahrnehmung, und ich habe keine empirischen Belege dafür. Allerdings handelt es sich keineswegs um ein nur subjektives Empfinden. Diese Wahrnehmung wird von vielen meiner Gesprächspartner geteilt, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche.

Bild: ©Privat

Herbert Haslinger (*1961) ist Professor für Pastoraltheologie, Homiletik, Religionspädagogik und Katechetik an der Theologischen Fakultät Paderborn. Ehrenamtlich war er lange Jahre Diözesanleiter der Jugendverbände in der Gemeinschaft Christlichen Lebens (J-GCL) in Passau, sowie Firmkatechet und Pfarrgemeinderatsvorsitzender seiner Heimatgemeinde in Niederbayern.

Frage: Woran liegt diese scheinbar fehlende Grundsympathie?

Haslinger: Sie ist in meinen Augen eine – teilweise unbewusste – Reaktion auf den eigenen Machtverlust. Nur ein Beispiel: Noch vor 50 Jahren war es in meiner Grundschule selbstverständlich, dass der Pfarrer festlegte, dass die Kinder in den Sonntagsgottesdienst kommen. Heute können Priester und andere kirchliche Funktionsträger die Gläubigen dagegen nicht mehr qua Amt an ihre Normen und Vorstellungen binden. Dieser Machtverlust wird als mangelnde Befriedigung des Erfolgsbedürfnisses oder als persönliche Kränkung empfunden. Das führt nun dazu, dass viele kirchliche Funktionsträger den Menschen nicht mehr in der Grundhaltung der Akzeptanz, sondern in jener der Schuldzuweisung gegenübertreten.

Frage: Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Haslinger: Das lässt sich an der Erklärung des Münsteraner Priesters Thomas Frings aufzeigen, auf die ich in meinem Beitrag reagiert habe. Frings spricht von Gläubigen, die sich von der Kirche distanziert hätten, dann aber in bestimmten Situationen doch ein Sakrament feiern möchten. Er wirft ihnen vor, nur Fotos für ihre Fotoalben sammeln zu wollen und ahnungslos zu sein. Das ist eine Haltung, die keine Sympathie erkennen lässt und darauf abzielt, diesen Menschen die Sakramentenpastoral zu verweigern.

Frage: Aber können Sie die Ernüchterung bei vielen Priestern nicht auch nachvollziehen? Frings etwa spricht davon, dass er seit Jahrzehnten eine "Abwärtsspirale" seiner Kirche erleben muss…

Haslinger: Zunächst trifft die "Abwärtsspirale", von der Pfarrer Frings spricht, nämlich der ständige Rückgang von Engagement bei den Gläubigen, gerade nicht zu. Davon abgesehen kann ich die Empfindung von Unzufriedenheit zwar nachvollziehen; das heißt aber nicht, dass ich sie für richtig halte. Die Enttäuschung erfolgt, weil man noch das klassische Bild der vollständigen Kirchenpraxis und der bereitwilligen Pflichterfüllung der Gläubigen im Kopf hat und nach diesem Maßstab Handeln und Verhalten der Menschen heute bewertet. Gerade die Vorstellung der umfassenden, einheitlichen Kirchenbindung ist allerdings im Rahmen der heutigen veränderten Lebensbedingungen überholt. Daraus darf ich als Seelsorger jedoch nicht den Schluss ziehen, dass sich die Menschen und die Welt nur zum Schlechten hin entwickelt hätten und dass ich mich aus der Wirklichkeit der heutigen Menschen zurückziehen dürfte. Ich darf auch Änderungsanforderungen an mich selbst nicht einfach abblocken. Und vor allem darf ich etwa das Fernbleiben der Menschen vom Gottesdienst nicht als fehlende Anerkennung für mich und meine Arbeit interpretieren. Vielmehr besteht für kirchliche Funktionsträger die Anforderung darin, gesellschaftliche Entwicklungen wie zum Beispiel die Individualisierung, die für die Menschen heute die unausweichlichen Bedingungen ihrer Lebensführung bilden und die keineswegs per se schlecht sind, als Wirklichkeiten des Lebens anzuerkennen. Das wäre eine wichtige Form der "engsten Verbundenheit mit den Menschen", die das Zweite Vatikanische Konzil der Kirche aufgetragen hat.

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Thomas Frings will seine Aufgabe als Priester für unbestimmte Zeit ruhen lassen. Zu unzufrieden ist er mit seiner Kirche. Seitdem kann sich der 55-Jährige vor E-Mails kaum retten. Er hat einen Nerv getroffen.

Frage: Sie haben den Eindruck, dass vielen Priestern die Offenheit gegenüber der modernen Welt fehlt. Woher kommt das?

Haslinger: Auch hier gilt, dass ich das nicht nur bei Priestern feststelle. Das Problem hat sicher vielerlei Gründe. Unter anderem gehört dazu, dass manche Personen und Gruppen in der Kirche eine schützende Nische suchen. Sie haben das Bedürfnis, sich von der als bedrohlich empfunden Welt zurückzuziehen und dadurch von den Anforderungen unseres komplexen Lebens zu entlasten. Es liegt aber auch am Selbstbild der institutionellen Kirche als solcher. Dort herrscht noch immer – wenn auch nicht mehr so stark wie früher – der Gedanke vor: Wir als Kirche sind die richtige, gute Instanz und außerhalb ist die schlechte Welt. Wir alle, Priester, Theologen und andere kirchliche Mitarbeiter, sind noch immer sehr anfällig für dieses Denkmuster. Schon das Zweite Vatikanische Konzil hat dagegen festgehalten, dass diese Welt eine gute und die Kirche mitten in ihr verortet ist. Diese Vorgabe des Konzils hat die Kirche noch nicht wirklich in ihrem kollektiven Bewusstsein verankert. Bis hinauf in die höchsten kirchenamtlichen Ebenen spricht man davon, dass die Kirche gegenüber der Gesellschaft reinigend wirken müsse. Damit sagt man nichts anderes, als dass die Gesellschaft schmutzig sei.

Frage: Aber ist es nicht so, dass gerade die kirchlichen Strömungen, die sich konsequent abgrenzen, stärkeren Zulauf haben als die vermeintlich liberalen und weltoffenen?

Haslinger: Man kann durchaus beobachten, dass gewisse katholizistische oder fundamentalistische Strömungen und Bewegungen in der Kirche einen Zulauf verzeichnen. Dennoch kann und darf Weltflucht oder Weltverneinung keine Option für eine Kirche sein, die sich gemäß dem II. Vatikanum als pastorale Kirche, als in der Welt stehende und bei den Menschen lebende Kirche bewähren muss. Die erwähnten Gruppen mit ihren häufig rigorosen oder traditionalistischen Haltungen rekrutieren sich zumeist nur aus bestimmten Milieus. Wir sprechen also von einer kleinen Zielgruppe, die es durchaus versteht, sich öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. Was man dagegen nicht wahrnimmt oder nicht wahrnehmen will, ist, dass der weitaus größere Teil der Bevölkerung gerade eine solche weltverschlossene Kirche als irrelevant oder ärgerlich erlebt und sich folglich davon distanziert.

Frage: Nun durchlaufen Priester ja eine lange Ausbildung. Im Erzbistum Paderborn sind Sie selbst daran beteiligt. Warum schafft man es nicht, alle angehenden Geistlichen auf diese pastoralen Herausforderungen vorzubereiten?

Haslinger: Das beginnt schon mit der Herkunft des Priesternachwuchses. Da hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten einiges grundlegend geändert. Ein Großteil der heutigen Kandidaten hat keine klassische katholische Sozialisation mehr. Sie haben nicht selbstverständlich ein katholisches Elternhaus, Ministrantenzeit oder kirchliche Jugendarbeit durchlaufen. Sie kommen vielfach aus anderen, teilweise sogar eher kirchenfernen Teilen der Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass sich gerade bei diesen Kandidaten aufgrund eines Kontrast- oder Kompensationsbedürfnisses oft ein bestimmtes traditionalistisches Priesterbild ausbildet. Es entsteht dabei ein Selbstbild als Priester, das im pastoralen Dienst dann aber nicht mehr funktioniert. Ich sehe meine Aufgabe darin, ihnen aufzuzeigen, dass die Wirklichkeit, auf die sie zusteuern, eine andere ist als die, die sie sich vorstellen und auch ein Stück weit selbst konstruiert haben. Das ist kein angenehmer, aber dennoch notwendiger Beitrag.

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Video: © Mediaplus X und Bernward Medien

Ein Beitrag der Serie "Katholisch für Anfänger". Die Zeichentrickserie erklärt auf einfache und humorvolle Art zentrale Begriffe aus Kirche und Christentum. In dieser Folge geht es um den Begriff Priester und seine Bedeutung im christlichen Glauben.

Frage: Müssen die Zugangskriterien für angehende Priester vielleicht sogar noch einmal verschärft werden, damit sie in der heutigen Gesellschaft bestehen können?

Haslinger: Die Priesterseminare sind ja bereits dabei, die Kriterien anzupassen und die Ausbildung zu intensivieren. Dabei muss jedoch verschärft darauf geachtet werden, ob es Kandidaten gibt, die aufgrund ihrer Persönlichkeit nicht für diesen Beruf geeignet sind – auch mit der möglichen Konsequenz, dass es künftig vielleicht noch weniger Priester gibt. Denn der Schaden, den jemand anrichtet, der nicht für diesen Dienst geeignet ist, aber dennoch damit beauftragt wird, ist weitaus größer.

Frage: Könnten nicht auch Berufene unter denen sein, die den hohen Anforderungen zum Opfer fallen?

Haslinger: Das ist ein schwieriges Thema. Zum einen: In der Ausbildung pastoraler Berufe haben wir an erster Stelle eine Verantwortung gegenüber all den Menschen, mit denen die von uns ausgebildeten Seelsorger später zu tun haben werden. Die Ablehnung ungeeigneter Kandidaten macht also diese nicht zu ungerechtfertigten Opfern, sondern ist ein Akt besagter Verantwortung für die Menschen. Zum andern: Die Berufung durch Gott ist natürlich ein theologisch grundlegender Gedanke. Aber es handelt sich eben um eine theologische Aussage, das heißt um eine Aussage über Gott, die gemäß einem bekannten theologischen Grundsatz immer mehr Unähnliches als Ähnliches, immer mehr Unzutreffendes als Zutreffendes beinhaltet. Wenn wir hingegen über die Herausforderungen und Probleme bei der Priesterausbildung sprechen, dann müssen wir Aussagen über konkrete Menschen sowie über deren Persönlichkeitsmerkmale und reale Lebensbedingungen treffen. Da hilft der Rekurs auf die Berufung durch Gott meistens nicht. Vielfach ist sogar die Gefahr gegeben, dass der emphatische Verweis auf eine vermeintliche Berufung die Probleme, die ein Kandidat hat, eher verdeckt und überlagert.

Frage: Was raten Sie nun Priestern, die wie Pfarrer Frings enttäuscht sind von den gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklungen?

Haslinger: Wenn sie in einer ähnlich schwierigen Situation sind, dann müssen sie dieses Problem lösen. Eine Entscheidung, wie Pfarrer Frings sie für sich persönlich getroffen hat, muss und kann ich voll respektieren. Gleichzeitig möchte ich die Priester aber bitten, dass sie die subjektive Wahrnehmung ihrer persönlichen unbefriedigenden Lage nicht zur generellen Beschreibung der Situation von Kirche erheben und vor allem nicht zur generellen Diagnose von Fehlentwicklungen der Menschen heute ummünzen. Denn so schlecht, dekadent, defizitär wie oft dargestellt sind die heutige Gesellschaft und die in ihr praktizierten Lebensformen eben nicht; sie haben sich nur verändert. Und zu guter Letzt würde ich mir wünschen, dass Priester sich auf den professionellen Anspruch ihres Berufs als Seelsorger besinnen. Anders, als es einige Kräfte in der Kirche oft wahrnehmen, erkennt die Gesellschaft die Wichtigkeit und Notwendigkeit ihres Berufs nämlich an. Sie werden gebraucht, und zwar dezidiert als Seelsorger, die in der unmittelbaren Begegnung mit Menschen auf kompetente Weise helfend handeln können. Das erfordert aber den Verzicht darauf, Macht ausüben und verdeckte eigene Interessen durchsetzen zu wollen.

Von Björn Odendahl