Erlaubt oder verboten?
Frage: Herr Lob-Hüdepohl, wie würden sie "Kirchenasyl" definieren?
Andreas Lob-Hüdepohl: "Kirchenasyl" ist ein Akt der Nothilfe: Manchmal kommt es vor, dass das Asylbegehren eines Flüchtlings fehlerhaft geprüft wurde. Oder aber die drohende Abschiebung führt zu unzumutbaren Härten oder zu schwerer Gefahr für sein Leib und Leben. In solchen Fällen beabsichtigt das "Kirchenasyl" eine erneute gewissenhafte Prüfung aller rechtlichen, sozialen und humanitären Gesichtspunkte durch den Staat. Dazu braucht es Zeit. In dieser Zeit bieten Kirchengemeinden den betroffenen Menschen einen symbolischen Schutzraum. Die staatlichen Behörden müssen diesen Schutzraum nicht respektieren. Sie sollten es aber, um auch in ihrem eigenen Interesse ihre Pflichtaufgaben noch einmal überprüfen zu können.
Kirchenasyl beabsichtigt aber nicht, selbst Asyl zu gewähren. Das geht schon deshalb nicht, weil die Kirche ja kein "Staat im Staate" ist. Kirchengemeinden sind kein rechtsfreier Raum, die nach eigenem Gusto Asyl gewähren könnten oder nicht. Darin unterscheidet sich das heutige Kirchenasyl von seinen historischen Vorläufern. Heute setzt es sich aus menschenrechtlichen Gründen für Asyl ein, das der Staat unmittelbar bedrohten Menschen gewähren soll – gegebenenfalls mit Unterstützung engagierter Christinnen und Christen in Kirchengemeinden. Deshalb spreche ich beim Kirchenasyl lieber vom "Asyl mit der Kirche", als vom "Asyl in der Kirche".
Frage: Wie lässt sich das Verhältnis von Staat und Kirche in dieser Debatte beschreiben?
Lob-Hüdepohl: Die Kirchen sind wie alle Religionsgemeinschaften Teil unserer offenen und menschengerechten Gesellschaft. Unser Staat hat die unverzichtbare Aufgabe, ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben aller Bürgerinnen und Bürger zu ordnen. Seine Organe sind demokratisch legitimiert. Deshalb müssen seine Entscheidungen grundsätzlich mit Respekt rechnen können – selbstverständlich auch von Seiten der Kirchen und ihrer Gläubigen. Sie stehen nicht über dem Staat. Aber auch der Staat steht nicht über unserer offenen und menschengerechten Gesellschaft. Auch er muss damit rechnen, dass nicht alles, was er entscheidet und tut, lammfromm und widerspruchlos hingenommen wird. Er muss sich jeden Tag an seinen eigenen Maßstäben neu messen lassen. Er braucht eine kritische Öffentlichkeit als Widerpart – wenn man so will um seiner selbst willen. In diesem Sinne müssen gelegentlich auch die Kirchen ein kritischer Widerpart zu bestimmten staatlichen Entscheidungen sein – jedenfalls dann, wenn es um das Schicksal von ausgegrenzten und besonders bedrohten Menschen geht.
Frage: Wie ist das Kirchenasyl aus ethischer Sicht zu bewerten?
Lob-Hüdepohl: "Kirchenasyl" ist ein echter Grenzfall: Zunächst ist die Unterstützung von Flüchtlingen, die in ihrem Heimatland an Leib und Leben bedroht sind und deshalb fliehen müssen, menschenrechtsethisch und damit christlich geboten. Das wird wohl von niemandem ernsthaft bestritten. Zum Grenzfall kommt es, wenn dabei der Vollzug bestimmter staatlicher Entscheidungen erschwert oder sogar unmöglich wird. Manche sprechen von einem Rechtsbruch, wenn Kirchengemeinden Flüchtlingen dabei helfen, sich der angeordneten Abschiebung zu entziehen. In bestimmten Fällen wäre aber eine solche gesetzeswidrige, also illegale Hilfe dennoch moralisch legitim. Die Sozialethik spricht hier von zivilem Ungehorsam. Der ist in einem demokratischen Rechtsstaats wie dem unsrigen dann moralisch erlaubt, wenn er sich gegen schwerwiegende Ungerechtigkeiten wendet, wenn alle legalen Einflussmöglichkeiten erschöpft sind, wenn er öffentlich, symbolisch und gewaltfrei verläuft und wenn seine Aktionen nicht grundsätzlich die verfassungsmäßige Ordnung gefährden. All das scheint mir in den Fällen von Kirchenasyl beachtet zu sein. Hinzu kommt, dass die Engagierten in der Regel sehr genau prüfen, ob die Gewährung eines "Kirchenasyls" der konkreten Situation angemessen ist. Sie müssen ja persönlich für die rechtlichen Folgen ihres Handelns einstehen. Das beugt auch einer unbedachten Inflation von Kirchenasyl wirksam vor.
„Man hat Gott mehr zu gehorchen als den Menschen.“
Frage: Was sind die Grundlagen für die christliche "Asylpolitik"?
Lob-Hüdepohl: Natürlich lässt sich aus biblischer Tradition keine konkrete Asylpolitik ableiten. Wie eine Gesellschaft, wie ein demokratischer Staat die Spannung zwischen den Gütern des Flüchtlingsschutzes einerseits und der Aufrechterhaltung eine friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens andererseits konkret austariert, ergibt sich nur durch eine stete Diskussion in der Öffentlichkeit und durch die entsprechenden parlamentarischen Verfahren. Biblisch und theologisch unstrittig ist aber, dass Flüchtlingen grundsätzlich Schutz gewährt werden muss. Und dass selbst der Fremde, der vielleicht gar nicht zur eigenen Gemeinschaft gehört, auch diese elementaren Rechte besitzt, die ihm niemals verwehrt werden dürfen. Ich empfehle eine Lektüre des biblischen Sabbatgebotes, wo sich diese Gedanke auf einen Kern verdichtet: Nicht nur die gesamte Familie, nicht nur alle Tiere, sondern selbst der Fremde, der im eigenen Gebiete lebt, der eigentlich nicht dazugehört, auch dieser Fremde soll am Sabbat ruhen dürfen, damit er wieder zu Kräften kommt und weiterleben kann. Denn, so würden wir modern formulieren, die Würde aller Menschen ist unantastbar, nicht nur der formalrechtlich zu uns gehörigen Staatsbürger.
Frage: Wie sollte sich ein Christ gegenüber Asylsuchenden verhalten?
Lob-Hüdepohl: Jede Christin und jeder Christ muss prüfen, wie er oder sie Menschen in größter Not im Rahmen der eigenen Möglichkeiten beistehen kann. Dabei ist er nur seinem eigenen Gewissen verpflichtet. Ein christlich geprägtes Gewissen wird vermutlich zunächst erkennen, dass eine staatliche Autorität unerlässlich ist, damit unterschiedliche Menschen mit höchst unterschiedlichen Interessen friedlich zusammenleben können. In diesem Sinne mahnt schon der Apostel Paulus in seinem Römerbrief, der staatlichen Autorität Gehorsam zu leisten. Damit ist aber kein blinder Kadavergehorsam gemeint. Denn, und ich denke da an den Heiligen Thomas von Aquin, auch das betont die kirchliche Tradition immer wieder: Die staatliche Autorität kann nur soweit Loyalität erwarten, wie sie mit ihren Gesetzen oder mit ihrer Rechtpraxis nicht gegen grundsätzliche Prinzipien der Gerechtigkeit und der Solidarität verstößt. Hier wird ein christlich geprägtes Gewissen schnell erkennen, dass, wie es der Apostel Petrus auf den Punkt gebracht hat, man Gott mehr zu gehorchen hat als den Menschen.
Frage: Was wünschen Sie sich von der weiteren Debatte?
Lob-Hüdepohl: Weiterhin sehr genaues Hinschauen auf die vielen Einzelfälle und Schicksale. Und vor allem weniger Polemik, dafür mehr ernsthaftes Ringen, wie bedrohten Menschen wirksam geholfen werden kann – am besten einvernehmlich zwischen christlichen Staatsbürgern und staatlichen Behörden, damit sich Kirchenasyl schnell erübrigt und im Jahre 2034 nicht weitere zwanzig Jahre Kirchenasylbewegung gefeiert werden müssen.