Caritas-Präsident Peter Neher spricht mit katholisch.de über die Mängel im deutschen Pflegesystem

Es fehlt die Anerkennung

Veröffentlicht am 10.07.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Pflege

Bonn ‐ Gravierende Mängel im deutschen Pflegesystem" lautet das Fazit einer Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts RWI, deren Ergebnisse in der vergangenen Woche bekannt gegeben wurden. Und die waren ernüchternd: Demnach sind bis 2030 Investitionen bis zu 73 Milliarden Euro nötig, um knapp 370.000 neue Pflegeplätze zu schaffen und einen Personalmangel von rund 330.000 Mitarbeitern aufzufangen. Die Zahlen der Studie will Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, nicht kommentieren. Doch auch er kennt die Probleme in der Pflege. Gegenüber katholisch.de bezieht er Stellung.

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Frage: Herr Neher, können Sie Mängel in der (Alten-)Pflege feststellen? Wenn ja, wie sehen diese aus?

Neher: Menschen im Alter bei Pflegebedürftigkeit und Krankheit zu begleiten, ist eine wichtige, sinnvolle aber auch herausfordernde Aufgabe. Um diese Aufgabe gut zu erfüllen, brauchen wir fachlich kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ausreichend Zeit haben, um den Bedürfnissen pflegebedürftiger Menschen gerecht zu werden. Der Alltag in der Altenpflege ist aber häufig davon geprägt, dass die Mitarbeitenden unter erheblichem Zeitdruck arbeiten müssen, der sich aus der Vielfalt der Anforderungen ergibt. Wir brauchen daher dringend eine Abkehr von der sogenannten "Minutenpflege". In den kommenden Jahren werden immer mehr ältere Menschen auf Unterstützung und Hilfe angewiesen sein. Gleichzeitig aber wird es auch aufgrund der demographischen Entwicklung schwieriger, junge Menschen für die Altenhilfe zu gewinnen. Wie in vielen anderen Bereichen auch, zeichnet sich ein Fachkräftemangel ab.

Frage: Was sind die Auslöser der Mängel?

Neher: Zum einen gehören dazu die Entwicklungen, die sich, wie schon genannt, aus dem demografischen Wandel ergeben. Sehr kritisch ist außerdem die unzureichende Finanzierung vieler Einrichtungen und ambulanten Dienste durch die Kranken- und Pflegekassen zu sehen, die sich oftmals nur am Preisniveau der günstigsten Mitbewerber auf dem Pflegemarkt orientieren. Überdies haben wir das Problem, dass die Vergütungen, welche die Krankenkassen anbieten, die realen Kosten bei weitem nicht decken. Vielerorts haben die ambulanten Dienste deshalb ein erhebliches wirtschaftliches Problem.

Eine Pflegerin steichelt einem bettlägrigen alten Mann über den Kopf.
Bild: ©KNA

Eine Pflegerin kümmert sich liebevoll um einen alten Mann.

Frage: Wie lassen sich die Mängel beheben?

Neher: Seit Jahren beschäftigen sich die jeweiligen Regierungen mit einer Reform der Pflege. Es werden Finanzierungsmodelle diskutiert, Kampagnen zur Gewinnung von Fachkräften initiiert und an der Einführung eines neuen Begriffs von Pflegebedürftigkeit gearbeitet. Hier hat ein Expertenbeirat erst vor wenigen Wochen einen Vorschlag gemacht, der auch die Belange von demenzkranken Menschen in der Pflege noch besser berücksichtigt, was dringend erforderlich ist. Die nächste Regierung muss nach der Bundestagswahl schnell an der Umsetzung arbeiten. Seit Jahren warten Angehörige zu Hause und Verantwortliche in den Einrichtungen darauf, dass die Versorgung von dementiell Erkrankten deutlich verbessert wird. Letztlich werden wir die Mängel in der Pflege nur abbauen können, wenn sich die Gesellschaft realistisch damit auseinandersetzt, dass gute Pflege Zeit und Geld kostet und bereit ist, beides zur Verfügung zu stellen.

Frage: Häufig ist von einem Fachkräftemangel die Rede. Warum ist der Beruf des Altenpflegers so "unbeliebt"?

Neher: Ich glaube keineswegs, dass der Beruf des Altenpflegers oder der Altenpflegerin unbeliebt ist, ganz im Gegenteil. In diesem Bereich arbeiten viele hochengagierte Menschen, die mit außerordentlichem Einsatz jeden Tag für andere da sind. Der Fachkräftemangel ergibt sich zum einen aus der sinkenden Zahl der Berufstätigen allgemein. Zudem handelt es sich hier um ein Arbeitsfeld, in dem die Leistung der Mitarbeitenden nicht die Würdigung erfährt, die sie verdient, sowohl was gesellschaftliche Anerkennung als auch Entlohnung betrifft. Hieran muss dringend gearbeitet werden.

Frage: Die RWI-Studie spricht von rund 160.000 Fachkräften, die bis 2030 fehlen würden. Können Sie diese Zahl bestätigen? Wenn nein, wie sehen Sie die Entwicklung?

Neher: Zu den konkreten Zahlen der Studie kann ich nichts sagen, weil unterschiedliche Studien zu unterschiedlichen Zahlen kommen. Unbestritten ist, dass auf absehbare Zeit Mitarbeitende in den Pflegeberufen fehlen werden. Gleichzeitig werden wir die künftigen Probleme nicht mit einem "mehr" des Bisherigen lösen können. Vielmehr brauchen wir so etwas wie einen Pflegemix, bei dem berufliche und verwandtschaftliche bzw. nachbarschaftliche Unterstützung im Interesse der Pflegebedürftigen zusammen arbeitet.

„Der Beruf ist interessant, das ist nicht das Thema. Ändern müssen sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege“

—  Zitat: Caritas-Präsident Peter Neher

Frage: Was muss sich ändern, um den Beruf wieder interessant zu machen und neues Fachpersonal zu finden?

Neher: Der Beruf ist interessant, das ist nicht das Thema. Ändern müssen sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege, zum Beispiel muss ernsthaft geprüft werden, ob die stetig wachsenden Anforderungen an die Dokumentationspflicht noch im Verhältnis stehen zu der Zeit, die für die direkte Pflege aufgewendet werden kann. Aber auch Fragen der Entlohnung, der eigenen gesundheitlichen Prävention und natürlich die der gesellschaftlichen Anerkennung sind entscheidend, um mehr Menschen für diesen Beruf zu gewinnen.

Frage: Während einige Pflegeheime lange Wartelisten haben, stehen woanders Zimmer leer. Gibt es Fehlsteuerungen im System der Pflege?

Neher: Die Auslastung von Pflegeheimen ist von vielen Faktoren abhängig: Gibt es genügend Fachkräfte, die ich einstellen kann oder bleiben Zimmer unbelegt, weil es nicht ausreichend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt? Gibt es eine große Zahl alter Menschen in der Region, die auf der Suche nach einem Heimplatz sind? Gibt es vor Ort viele andere Anbieter, die in der Altenhilfe tätig sind? Mögliche Fehlsteuerungen im System liegen aus meiner Sicht eher an Entscheidungen der Kostenträger, welche Pflegesätze sie zu zahlen bereit sind und an welchen Tarifen sich die jeweiligen Arbeitgeber orientieren.

Frage: Wo sieht die Caritas Handlungsbedarf? Was kann optimiert werden?

Neher: Wir brauchen eine öffentliche und ehrliche Debatte darüber, dass gute Pflege Geld kostet. Dies erfordert Refinanzierungsbedingungen, die Qualität in der Pflege sicherstellen. Hier sind vor allem die Kassen gefordert. Wir brauchen aber auch neue Konzepte, wie es auch im demografischen Wandel gelingt, pflegebedürftige Menschen gut zu begleiten und zu betreuen. Dies erfordert ein neues Zusammenspiel von Haupt- und ehrenamtlichen Kräften, von Angehörigen, Nachbarn und Freunden. Handlungsempfehlungen gibt es viele, wir müssen endlich an der Umsetzung arbeiten. Dies ist zuerst eine Aufgabe der Politik, dann aber auch eine, die uns alle betrifft. Pflege ist und bleibt ein interessantes und attraktives Arbeitsfeld. Die Mitarbeitenden erfahren jeden Tag unmittelbar, welche Bedeutung ihr Handeln für andere Menschen hat. Daran sollte man auch immer wieder erinnern.

Das Interview führte Björn Odendahl