Charlotte Knobloch über Holocaust-Gedenken, Antisemitismus und Pegida

"Es gibt No-go-Areas"

Veröffentlicht am 27.01.2016 um 00:01 Uhr – Von Gudrun Lux – Lesedauer: 
Judentum

München ‐ Vier Jahre lang war Charlotte Knobloch Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Im Interview mit katholisch.de spricht sie über das heutige Holocaust-Gedenken, Antisemitismus unter Deutschen und Migranten sowie die Gefahr durch Pegida.

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Frage: Frau Knobloch, der 27. Januar ist auch 71 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz ein schmerzlicher Gedenktag. Sehen Sie diesen Tag aktuell in Deutschland genug gewürdigt?

Knobloch: Zunächst hat das Gedenken vor allem in den einzelnen jüdischen Gemeinden stattgefunden - obgleich der 27. Januar eigentlich nicht der Gedenktag für die jüdischen Gemeinden ist. Das ist der Jom Haschoa. Der 27. Januar ist der Gedenktag, den sich die Gesamtgesellschaft zur Aufgabe gemacht hat. Ich war nach diesen Anfängen sehr überrascht und bin heute fast euphorisch: Ich finde, dieser Tag hat sich - auch über Deutschland hinaus - sehr etabliert. Auch die Vereinten Nationen spielen da eine wichtige Rolle, sie haben den 27. Januar ja 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt.

Frage: Wie schätzen Sie allgemein die Erinnerungskultur an die Opfer der Shoa in Deutschland ein?

Knobloch: Ich habe den Eindruck, dass es insgesamt kaum Routineveranstaltungen sind, sondern wirklich Veranstaltungen, die Menschen bewegen. Vorhin war ich in einer Schule zu Gast, und es berührt mich, wie interessiert und einfühlsam die jungen Menschen fragen. Diese Schule hat den 27. Januar zum Anlass genommen, sich mit dem Judentum in Deutschland zu beschäftigen. Und da gibt es ja nicht nur den Holocaust, sondern auch die Zeit davor, als in Politik, Wissenschaft, Kunst, Kultur und Wirtschaft jüdische Menschen eine große Rolle gespielt haben und sich auch für das Land Deutschland verantwortlich sahen. Das gerät durch die furchtbare Geschichte oft in den Hintergrund. Ich empfehle sehr, das jüdische Leben in Deutschland in seiner Gesamtheit zu betrachten und nicht auf den Holocaust zu reduzieren.

Die Haupteinfahrt des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau.
Bild: ©scabam/Fotolia.com

Das ehemalige Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau: Am 27. Januar 1945 fand die Befreiung statt.

Frage: Wie kann sich das Gedenken gestalten, wenn Zeitzeugen wie Sie nicht mehr da sind?

Knobloch: Das ist eine meiner Sorgen. Dann müssen die bestehenden Einrichtungen die Aufgabe, Geschichte zu vermitteln, noch stärker übernehmen. Sehr positiv fällt da das neue NS-Dokumentationszentrum in München auf, aber auch viele Gedenkstätten in den ehemaligen Konzentrationslagern. Die Einrichtungen sind da und wenn sie weiter so geführt werden wie bisher, werden das Gedenken und Erinnern eine Zukunft haben. Und es macht mir Hoffnung, wenn ich junge Menschen treffe, die interessiert sind - ich sage ihnen dann immer, dass sie die Verantwortung haben, nicht zu vergessen und für das "Nie wieder" einzustehen. Das sind positive Signale in die richtige Richtung. Ich wünsche mir, dass die jungen Menschen den Stab der Erinnerung verantwortungsbewusst in die eigenen Hände nehmen.

Frage: Verantwortung beginnt schon hier vor der Tür. An deutschen Synagogen ist immer auch Polizei zu sehen. Ist jüdisches Leben in Deutschland sicher?

Knobloch: Sicherheit ist ein Begriff, den man schwer definieren kann. Mein Eindruck ist aber, dass alles getan wird, um jüdische Menschen und Einrichtungen zu schützen. Allerdings ist das leider etwas, was vielen nicht so verständlich ist, wie es eigentlich nötig wäre, das sehe ich schon auch. Aber alles was von Terrorismus bedroht wird, sollte beschützt werden. Und das sind eben nicht nur die jüdischen Einrichtungen. Die Terroristen zielen nie nur auf ein bestimmtes Ziel. Die konkreten Opfer sind immer nur Stellvertreter. Der Feind ist der Westen, unsere liberale Lebensweise, unsere Werte. Sie können unser "leben und leben lassen" nicht ertragen.

Frage: Es gibt immer wieder Meldungen, dass Juden sich nicht mehr mit Kippa auf die Straße trauen. Kann man sich in Deutschland offen als Jude zu erkennen geben? Ist der Antisemitismus in Deutschland wieder stärker geworden?

Knobloch: Es gibt No-go-Areas. Es gibt Kameradschaften, wo Martin Wiese und Co. sich herumtreiben. (Der Neonazi und Terrorist Wiese wurde wegen eines 2003 geplanten Attentats auf das jüdische Zentrum in München zu sieben Jahren Haft verurteilt und ist inzwischen wieder auf freiem Fuß., Anm. der Red.) Da sollte man lieber nicht ausprobieren, wie die auf eine Kippa reagieren. Die Zeiten, zu denen man sorglos durch die Gegend spazieren konnte, sind vorbei.

„Wir müssen sehen, dass jetzt viele Menschen zu uns kommen, die mit einem Hass auf alles Jüdische, einem Hass auf den Staat Israel erzogen worden sind. Das müssen wir im Auge behalten.“

—  Zitat: Charlotte Knobloch

Frage: Es wird - auch vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingskrise - gerne von "importiertem Antisemitismus" gesprochen. Ist der eine größere Gefahr als der "urdeutsche Antisemitismus"?

Knobloch: Der Antisemitismus ist ja in Deutschland nicht erfunden worden, das muss man auch mal sagen. Deutschland ist mit seiner Vergangenheit in einer besonderen Verantwortung, den Antisemitismus einzudämmen. Aber natürlich: Wir müssen sehen, dass jetzt viele Menschen zu uns kommen, die mit einem Hass auf alles Jüdische, einem Hass auf den Staat Israel erzogen worden sind. Das müssen wir im Auge behalten. Wir können das nicht einfach ignorieren. Schon heute ist der Antisemitismus unter hier lebenden Muslimen - leider gerade auch unter den jungen Menschen - ein wachsendes Problem.

Frage: Inwieweit müssen sich Muslime, die jetzt nach Deutschland kommen, anpassen?

Knobloch: Als der Zweite Tempel zerstört wurde (70 n. Chr. in Jerusalem, Anm. der Red.) und die Juden ins Exil gingen, da hieß es: Wo auch immer du hingehst, du sollst dich nach dem Gesetz dieser Stadt richten. Das war, meine ich, eine weise Regel, die ich auch allen, die zu uns kommen, raten möchte.

Frage: Wie funktioniert denn die Integration der Juden, die aus der ehemaligen Sowjetunion vor allem in den 1990er Jahren als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kamen?

Knobloch: Die Integrationsleistung, die wir da erbringen mussten, war enorm. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, hatten vereinbart, Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland zu holen, um sie vor dem dort entstehenden Antisemitismus zu retten - und ihnen eine Zukunft hier zu geben. Der Anfang war schwer, es war ein Chaos wie heute, es war eine ähnliche Flüchtlingssituation - freilich in anderem Ausmaß - viele waren nicht registriert, hatten kein Visum, die kamen einfach. Bis dann 1991 das Kontingentflüchtlingsgesetz in Kraft trat und eine geordnete Einwanderung möglich war. Wir hatten weder das Personal, noch die Räumlichkeiten, noch die Wohnungen - alles wie heute. Die Menschen sagten: Ihr wolltet, dass wir kommen, jetzt habt ihr keine Wohnungen, keine Arbeit und unsere Berufsabschlüsse werden nicht anerkannt. Das waren alles Themen, die auf uns lasteten. Wenn die Landeshauptstadt München und der Freistaat Bayern uns nicht unterstützt hätten, wäre es sicherlich nicht so gut gegangen, wie es heute aussieht. Es ist wirklich alles ziemlich ähnlich. Damals lebten Menschen in Containern. Wichtig ist zu erkennen, wer sich integrieren will. Auch bei uns hat es Leute gegeben, die sich nicht integrieren wollten, die nicht die deutsche Sprache lernen wollten. Aber heute, in dritter Generation, sind die Unterschiede längst verschwunden.

„Heute sind wir noch ein gefestigtes Land. Wenn Sie mich in zwei Jahren fragen, kann ich Ihnen heute nicht sagen, ob meine Antwort noch dieselbe sein kann.“

—  Zitat: Charlotte Knobloch

Frage: Die meisten Flüchtlinge, die heute kommen, sind Muslime. Welche Rolle können die muslimischen Gemeinden bei der Integration spielen?

Knobloch: Wenn die muslimischen Gemeinden interessiert daran sind, die Aufnahme dieser Menschen zu unterstützen - wovon ich noch nicht überzeugt bin -, sollten sie es tun. Sie haben Möglichkeiten, die fast der gesamte Rest der deutschen Gesellschaft nicht hat, alleine dadurch, dass sie oft die Sprachen der Flüchtlinge sprechen. Dann müssen die muslimischen Gemeinden das offen zeigen.

Frage: Inzwischen demonstriert Pegida fast täglich auf dem Münchner Marienplatz. Was bedeutet das für Sie?

Knobloch: Wir sollten uns nicht überraschen lassen, welche Dinge da noch auf uns zukommen. Die Versammlungsfreiheit und die Demokratie werden auf eine harte Probe gestellt. Es sollte alles auch seine Grenzen haben. Ich sehe da durchaus Hetzpropaganda, die vom Grundgesetz verboten ist. Wenn solche Veranstaltungen genehmigt werden, muss zumindest diese Hetze unterbunden werden. Wenn dies nicht gelingt, dürfen diese Veranstaltungen keine Erlaubnis bekommen - sie hetzen gegen Menschen und sie verhetzen Menschen.

Frage: Haben Sie Angst, dass wir gesellschaftlich und politisch in dunkle Zeiten zurückfallen, die wir nach der Katastrophe der Shoa und des Zweiten Weltkrieges überwunden glaubten?

Knobloch: Heute sind wir noch ein gefestigtes Land. Wenn Sie mich in zwei Jahren fragen, kann ich Ihnen heute nicht sagen, ob meine Antwort noch dieselbe sein kann. Ich würde dieses Wort "gefestigt" für die Zukunft nicht gerne in den Mund nehmen.

Zur Person

Charlotte Knobloch (*1932) ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, die mit rund 9.500 Mitgliedern die zweitgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands ist. Von 2006 bis 2010 war sie zudem Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Knobloch wurde in München geboren und überlebte den Holocaust als vorgebliche uneheliche Tochter einer ehemaligen Hausangestellten im mittelfränkischen Arberg bei deren katholischer Familie. Ihre Großmutter, bei der sie ab 1936 gelebt hatte, wurde 1944 im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet.
Von Gudrun Lux