"Es ist etwas in Bewegung"
Frage: Herr Professor Mieth, was beschäftigt Sie derzeit am stärksten?
Mieth: So wie in den vergangenen Jahren auch: Meister Eckhart als Philosoph, Theologe und weltweit renommierter spiritueller Brückenbauer. Ich bin immer noch Vizepräsident der Meister-Eckhart-Gesellschaft, einer internationalen, interdisziplinären, wissenschaftlichen Vereinigung.
Frage: Was fasziniert Sie an dieser Figur?
Mieth: Meister Eckhart ist interreligiös stark gefragt, und das hat zwei Gründe: Seine Auslegung des Christentums ermöglicht zugleich einen intellektuellen Zugang zu Muslimen, Konfuzianern, Daoisten und Buddhisten - er war ja selbst am Dialog mit den arabischen Philosophen und dem jüdischen Gelehrten Moses Maimonides interessiert. Und er betrieb eine Form von Theologie, bei der die Ekklesiologie, also die Kirchenlehre, nicht im Vordergrund steht; deren starke Bedeutung kommt erst nach dem Konfessionalismus in der Neuzeit.
Zur Person
Dietmar Mieth wurde am 23. Dezember 1940 in Berlin geboren. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008 war er Professor für theologische Ethik und Sozialethik an der Universität Tübingen. Er ist Vizepräsident der Meister-Eckhart-Gesellschaft und Beiratsmitglied zur Verleihung des Ethikpreises des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB).Meister Eckart ging es um die biblische Offenbarung, die er vernünftig übersetzen wollte. Zudem gibt es bei mir eine persönliche Ebene: Ich habe meine wissenschaftliche Karriere mit Meister Eckhart begonnen. Heute, nach der Emeritierung, arbeite ich oft wie ein systematisch interessierter Beobachter der religiösen Bewegungen des Spätmittelalters, insbesondere der sogenannten Frauenmystik.
Frage: Wer heute die katholische Theologie in Deutschland betrachtet, kann die Frage stellen: Wo sind die Nachfolger zum Beispiel von einem Hans Küng oder einem Johann Baptist Metz, die an der Beantwortung der wichtigen gesellschaftlichen Fragestellungen mitwirken und sich in den Medien vermitteln können?
Mieth: Die gibt es nicht mehr in dieser Form, aber das liegt nicht an der Qualität des Personals. Mitte der 1980er Jahre begann sich die Philosophie für praktische Fragen zu interessieren, etwa für Gentechnik und Bioforschung. Heute erwarten sich die Menschen Lebensauskunft und gesellschaftliche Direktiven eher von der Philosophie oder der Religionswissenschaft als von einer konfessionellen Theologie. Auch wenn es heute dort sehr kompetente Leute gibt: Die gesellschaftlichen Mitgestaltungsmöglichkeiten von damals gibt es für sie so nicht mehr. Das ist im anglophonen Sprachraum teilweise anders.
Hinzu kommt, dass bei Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Entscheidungen medial immer nur bereits bekannte Positionsecken besetzt werden. An einem wirklichen öffentlichen Diskurs besteht nur ein geringes Interesse. Das hat Konsequenzen nicht nur, aber auch für die Theologie. Zudem hat die Kirche durch den Missbrauchsskandal viel gesellschaftliches Vertrauen verspielt.
Frage: Hat sich durch Papst Franziskus zumindest das innerkirchliche Klima geändert?
Mieth: Ich sehe zwei Elemente: Der Papst hat Hoffnungen geweckt, die leider manchmal düpiert werden. Zudem werden heute so stark wie noch nie zuvor römische Gegensätze deutlich. Die Enzyklika 'Laudato si' kann ohne Übertreibung als Wende im kirchlichen Sprechen verortet werden. Der Papst führt sich als kirchlicher Gesprächspartner ein, es ist diskursfähig, er fordert die lokale Politisierung von ökologischen Fragen.
Liest man dagegen die Rede, die Franziskus beim Ad-limina-Besuch der deutschen Bischöfe vorgetragen haben soll, kann man wenig Hoffnung haben. Der Gegensatz in der Sprache zwischen beiden Texten ist wie der zwischen 'Tomorow's Catholics' und 'Yesterday's Church'.
Frage: In der Summe...
Mieth: ... bin ich skeptisch. Wo sind die Optionsgrenzen dieses Papstes? Franziskus hat das Problem, Freiheit gewähren und gleichzeitig etwas durchsetzen zu wollen. Wer das offene Gespräch will, kam am Ende nur schwer etwas alleine entscheiden. Und wie sollen die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Weltkirche überhaupt gemeinsam zur Sprache gebracht werden?
Ich sehe einen Stilwechsel und eine Option für Kollegialität. Sicher, es ist etwas in Bewegung. Aber ich weiß nicht, wohin es führt.
Frage: Was sagen Sie als Sozialethiker zur Flüchtlingsproblematik?
Mieth: Die Spaltung zwischen der Betonung von Willkommenskultur einerseits und Aufnahmekapazität andererseits kann nur auf der Basis moralischer Verantwortung und guter Verwaltung überwunden werden.
Frage: Noch ein Themenwechsel: Der Sport wird zunehmend mit negativen Schlagzeilen in Beziehung gebracht. Sind Sie optimistisch, dass sich durch die Ermittlungen gegen die Fifa und in der Leichtathletik etwas ändert oder bleiben Korruption und Doping die treuen Begleiter des Sports?
Mieth: Ich bin kein Prognostiker, sondern Ethiker. Wissenschaftlich bewiesen ist, dass der Sport Systeme hervorgebracht hat, in denen Doping ein geduldeter Bestandteil ist. Die Frage ist deshalb immer: Sind solche Systeme in der Lage, sich aus den eigenen Ressourcen heraus zu reformieren? Die ethische Diskussion über Doping im Sport war nie ernsthaft und konsistent. Auch einige Doping-Mediziner haben am Anfang moralische Gründe - etwa schnellere Regeneration - vorgebracht.
In vielen Medien gibt es statt Ethik ein Hochloben und dann wieder Fallenlassen von Personen. Dabei verbreitet sich immer mehr billiger Moralismus. Da wird aus der medial gemachten Lichtgestalt Franz Beckenbauer, die es ja real so nicht gab, ein korrupter Strippenzieher. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich persönlich bereichert hat. Aber Figuren werden gemacht und versenkt.
Frage: Wie könnten denn im Fußball tatsächliche Reformen aussehen?
Mieth: Eine Option wäre, dass die Uefa mit neuem Personal an der Spitze aus der Fifa austritt und einen eigenen Verband gründet. Ziel muss ein vernünftiger Club mit ganz neuer Satzung sein, in dem diejenigen nationalen Verbände mitarbeiten, die sich an Normen halten wollen. Das wird anziehen, und dann kommen auch die anderen.
Im Zweifel kann der DFB diesen Schritt auch allein gehen. Der Verband hat für einen solchen Schritt genügend regenerierende Kräfte, das hängt auch mit der breiten gesellschaftlichen Aufstellung zusammen. Globale Systeme müssen schon im Aufbau rechtlich gegen Korruption geschützt werden, die Regeln dürfen aber auch nicht zu scharf sein, weil das wieder nur zur Korruption animiert. Für die Kontrolle sollten Juristen und Ethiker zuständig sein. Denn ohne moralische Kompetenz funktioniert es nicht.