Freiburger Theologe Striet über den Missbrauch und die Theologie

"Es stehen grundsätzliche theologische Fragen an"

Veröffentlicht am 25.01.2016 um 00:01 Uhr – Von Agathe Lukassek – Lesedauer: 
Missbrauch

Bonn ‐ Die Theologie geht zu zaghaft bei der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Kirche vor, sagt der Freiburger Theologe Magnus Striet. Vor diesem Hintergrund formuliert er Anfragen an das katholische Amts- und Kirchenverständnis.

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Frage: Professor Striet, Sie waren bereits zweimal mit Studierenden im vatikanischen Zentrum für Kinderschutz (CCP) in Rom. Worum ging es bei diesen Besuchen?

Striet: Bei den gemeinsamen Besuchen mit dem Lehrstuhl für Moraltheologie des Kollegen Stephan Goertz, Uni Mainz, ging es um die Frage, wie nach dem Aufdecken von sexuellen Missbrauchsfällen die vatikanische Präventionspolitik im 21. Jahrhundert aussieht. Theologiestudierende, die künftig eine Funktion in der Kirche ausüben wollen, müssen für dieses Thema sensibilisiert sein. Ein enormer Lerneffekt für die Studierenden besteht in der Wahrnehmung, dass Sexualität – ein selbstverständlich globales Thema – kulturell sehr unterschiedlich geprägt ist. 

Frage: Der Leiter des CCP, Pater Hans Zollner SJ, wirft der Kirche vor, das Problem des sexuellen Missbrauchs an Kindern durch Kirchenmitarbeiter gerne an Psychologen und Kirchenrechtler zu delegieren und theologische Antworten gar nicht erst zu suchen. Was sagen Sie zu dem Vorwurf?

Striet: Es stimmt tatsächlich, dass das Gesamtthema Sexualität in den Jahrzehnten nach dem Konzil in der akademischen Theologie nicht sehr offensiv behandelt wurde. Es gab inoffizielle Denkverbote, was wesentlich damit zu tun hatte, dass die "Theologie des Leibes" von Johannes Paul II. immer mehr zur maßgeblichen Größe erklärt wurde. Wer das Thema offen behandelte, dem drohte, gemaßregelt zu werden. Seit der Aufdeckung von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Einrichtungen und durch Amtsträger ist dies anders geworden. Allerdings stehen grundsätzliche theologische Fragen an, die weit über den Bereich der Moraltheologie hinausgehen.

Zur Person

Professor Magnus Striet ist Dogmatiker und Fundmanethaltheologe. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Fundamentaltheologie an der Uni Freiburg.

Frage: Kennen Sie aktuell wissenschaftliche Projekte, die sich damit beschäftigen?

Striet: Ja, zum Beispiel die des bereits erwähnten Kollegen Stephan Goertz: Dem Moraltheologen geht es darum, das Thema Sexualität allgemein zu enttabuisieren, aber auch ein spezifisches Augenmerk auf das Thema sexuelle Gewalt an Minderjährigen und deren systemische Voraussetzungen zu werfen. Wer sich dem Thema dieser Voraussetzungen nicht stellt, muss wissen, was er tut: Ein weiteres Opfer, das hätte verhindert werden können, ist eines zu viel. Aber über diesen Aspekt der Prävention hinaus stellen sich auch ganz andere, sehr grundsätzliche Fragen. Werfen wir einen Blick auf die Täter. Wenn man akzeptiert, dass kein Mensch sich sein Begehren einschließlich der in diesem enthaltenen sexuellen Dimension ausgesucht hat, sondern dass da ein ganzer Komplex von Faktoren eine Rolle spielt, so stellt sich die Frage, wie man den Schuldanteil bei Missbrauchstätern überhaupt beschreibt. Zumal man heute weiß, dass viele von ihnen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gemessen an anderen Biographien problematisch sind.

Wenn ich diese Frage aufwerfe, so will ich nicht missverstanden werden: Sexuelle Gewalt muss um jeden Preis verhindert werden, und zunächst muss es um die Opfer gehen. Aber die theologischen Fragen könnten tiefer gehen. Bis heute tut man in der Kirche immer noch oft so, als ob alles unter die Freiheit des Willens gestellt sei, aber das ist sicherlich nicht der Fall. Die Psychologie, die Humanwissenschaften im Allgemeinen und auch die Sexualforschung insistieren hier seit gut einhundert Jahren, ohne damit Freiheit gleich gänzlich bestreiten zu wollen. In der Theologie, zumindest in der vom Lehramt vertretenen Theologie, sind diese Erkenntnis bislang nur begrenzt verarbeitet.

Frage: Versuchen wir doch einmal, einige mögliche theologische Thesen oder Antwortversuche zu formulieren: Was bedeutet der Missbrauch für die Kirche und ihr Bild von sich selbst?

Striet: Im Raum der Kirche muss die Frage gestellt werden, ob nicht auch Theologie einen Anteil daran hat, dass es zu Missbrauch durch Amtsträger kommen konnte. Ich weise nur auf die hochgradig spiritualisierte Kategorie der Reinheit hin. Dass Jesus eine Sexualität gehabt hat, spielte theologisch keine Rolle, was nicht ohne Auswirkungen auf das Priesterbild bleiben konnte. Nicht der Mann ist es, der bei einer entsprechenden Sakralisierung des Priesters begegnet, sondern eben der, der Christus vertritt. Es ist dringend geboten, dass Menschsein Jesu theologisch neu zu akzentuieren – dass dieser ein Mann in den Kulturkontexten seiner Zeit mit den entsprechenden, durchaus kontingenten Vorstellungsmustern war. Zugleich ist das Priesteramt zu desakralisieren, nüchterner zu betrachten. So wie auch die Kirche immer eine komplexe Wirklichkeit darstellt, so auch die, die im Namen der Kirche amtlich handeln.

Bild: ©Britt Schilling/FRIAS

Magnus Striet ist Inhaber des Lehrstuhls für Fundamentaltheologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Freiburg.

Frage: Ekklesiologisch nachgefragt: Kann so eine Kirche glaubwürdig den Heilswillen Gottes vermitteln?

Striet: Ja, ich würde das sogar umgekehrt sagen: Wenn Kirche anerkennt, dass sich die Ambivalenz der Welt in ihr selbst zeigt und sie selbst eine ambivalente Größe darstellt, dann stünde sie viel glaubwürdiger in der Welt da. Wenn man Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde begreift, dann hat er selbst diese Welt in all ihre Ambivalenzen und Undurchsichtigkeiten entlassen – und dann kann es auch die Kirche nur als eine solche, stets ambivalente Größe geben. Mit Verweltlichung hat dies nichts zu tun.

Frage: Wie kann man von Erlösung und Heilung sprechen, wenn einem ein Opfer gegenübersteht?

Striet: Spätestens seit den Zeiten des Augustinus wurde das Verständnis dessen, was Erlösung meint, auf die Sünde des Menschen und umgekehrt das Menschenbild auf die Sünde hin konzentriert. Etwas zugespitzt könne man sagen: So übte die Kirche Macht aus. Dies hat nicht nur zu den großen Abbrüchen der Überlieferung des Christlichen zumindest in den europäischen Gesellschaften geführt, sondern auch eine Sprachlosigkeit erzeugt, wenn es um die Opfer von Gewalt geht. Auch bezogen auf die Opfer von sexueller Gewalt wird man ja wohl kaum in die angestammte Sündenrhetorik verfallen können. Die glaubwürdige Rede von einem Gott, der nichts anderes als das Wohl, die Unversehrtheit, das Glück, ein gelungenes Leben für den Menschen will und der ihm in jeder noch so schwierigen Zeit zur Seite steht, muss die Theologie erst wieder erlernen. Dazu müssen Theologie und Kirche sich als ernst zu nehmend bewähren, indem sie sich sensibel zeigen für die Realität.

Linktipp: Wo bleibt die Hilfe der Theologen?

Ein Problem in allen Teilen der Welt: Sexuelle Gewalt gegen Kinder. Der Jesuit Hans Zollner leitet in Rom das vatikanische Zentrum für Kinderschutz. Im Interview spricht er über hohe Rückfallquoten und neue Aufgaben der Theologie.

Ungeschehen, einfach "wieder gut" gemacht werden kann gar nichts. Wenn es für die Opfer der sexuellen Gewalt überhaupt eine Hoffnung gibt, dann die, dass die Wunden vernarben – vielleicht eines Tages nicht mehr schmerzen. Vielleicht in der Dimension, die gläubige Menschen Himmel nennen, aber das ist eine ausstehende Größe… In der Gegenwart werden die erlittenen Traumatisierungen wohl kaum restlos bewältigt werden, vielleicht ausgehalten werden können. Ob der Glaube da hilft, vermag ich nicht zu sagen. Da müssten die Opfer gefragt werden. Warnen kann ich nur davor, allzu schnell mit Glaube und Spiritualität zu kommen. Es waren Priester, die Pastoralmacht für sich beansprucht haben, die zu dieser Gewalt tätig waren – zuzuhören und auszuhalten ist das Gebot der Stunde.

Frage: Die Theologie und das Lehramt haben schon recht früh in der Kirchengeschichte festgelegt, dass etwa die Gültigkeit eines Sakraments nicht von der Würdigkeit des Klerikers abhängt. Darf das so sein, wenn ein "Mann Gottes" die anvertrauten Menschen und Gott in so einer Weise verrät?

Striet: Auch diese Überzeugung hatte Gründe, die man historisch aufklären kann und muss. Von Anfang an war man sich darüber im Klaren, dass auch Amtsträger Menschen sind, die von Schuld und Sünde gezeichnet sind. Deshalb hat man versucht, die Wirksamkeit sakramentalen Handelns unabhängig von der Person zu begreifen, die die Handlungen vollzieht. Fakt ist jetzt, dass das Amt nach der Aufdeckung der Missbrauchsfälle zutiefst geschädigt worden ist. Weil man verschwiegen und teils vertuscht hat, steht jetzt ein Generalverdacht im Raum. Er führt auch zu einer teils harten, schlicht ungerechten Wahrnehmung. Aber auch das ist auszuhalten. Insgesamt ist die Vorstellung vom Amt in seiner hochgradig spiritualisierten Form auszunüchtern. Die Güte Gottes unter sakramentalen Zeichen wird immer von Menschen vermittelt, die die Ambivalenz des Lebens in sich tragen. Kirchliche Ausbildungsstrukturen haben dafür Sorge zu tragen, dass es Menschen gibt, die sich so in ihrem "Dienst" verstehen. Zugleich dürfen Menschen mit unreifer Persönlichkeitsentwicklung beziehungsweise einem Gefährdungspotenzial nicht in den kirchlichen Dienst gelangen. Aber da hilft kein Gebet, um dies zu verhindern, sondern nur das Wissen, das die Wissenschaften über den Menschen und seine psychischen Abgründe gewonnen haben.

Themenseite: Missbrauch

Der Missbrauchsskandal erschütterte die katholische Kirche in ihren Grundfesten. Seit 2010 die ersten Fälle bekannt wurden, bemüht sich die Kirche um Aufarbeitung der Geschehnisse. Katholisch.de dokumentiert die wichtigsten Etappen.

Frage: Muss man an der Stelle auch die Sakramentenlehre theologisch überdenken?

Striet: Nein. Sakramentale Handlungen und die Sakramente als Zeichen der Gegenwart Gottes wollen aussagen, dass Gott mit seinem in Jesus endgültig offenbar gewordenen Versprechen, dem Menschen unbedingt treu bleiben zu wollen, in den konkreten Lebenswirklichkeiten präsent ist. An diesem Grundverständnis dessen, was sakramental meint, muss meines Erachtens nichts geändert werden. Welcher andere Gott dürfte auch die Akzeptanz von Menschen finden? Gefordert ist theologische Bildung auf den kirchlichen Feldern, dass eben dies gemeint ist und das Sakrament nichts Magisches ist. Glaubwürdig wird diese sakramentale Dimension von Kirche freilich nur, wenn diejenigen, die für diese Sakramente einstehen, sie spenden, realistische Menschen sind und nicht als Selbststilisierungen von Heiligkeit wahrgenommen werden.

Frage: Lange Zeit wurde der Missbrauch konsequent von der Kirche verschwiegen. Hat auch die hierarchische Struktur der Kirche die sexuelle Gewalt an Kindern begünstigt und muss die Struktur sich vielleicht ändern?

Striet: Ich bin fest davon überzeugt, dass die hierarchische Struktur das Verschweigen begünstigt hat. Eine Kirche, die sich hierarchisch aufstellt, keine für Kritik aufgeschlossenen Instanzen kennt, wird nur wenig durchlässig sein für solche Fakten. Aber mein Eindruck ist, dass in den meisten Diözesen hierzulande inzwischen eine hohe Sensibilität für das Thema entwickelt wurde, Prävention längst keine leere Worthülse mehr ist. Allerdings wird man sexuelle Gewalt trotz aller Präventionsmaßnahmen wohl nie ganz verhindern können. Wer meint dies erreichen zu können, dürfte bereits wieder der Vorstellung einer reinen Kirche, die im Kontrast zu schmutzigen Welt existiert, nachhängen.

Frage: Jesus hat den Christen aufgetragen siebenundsiebzigmal zu vergeben und so wird bis heute in der Kirche viel von Vergebung gesprochen. Aber wie kann das gehen, einem Täter zu vergeben?

Striet: Zu vergeben ist vielleicht die höchste Möglichkeit von Freiheit. Aber sie ist niemandem abzuverlangen. Wenn ein Opfer von sexueller Gewalt dies vermag, so kann man nur staunen – aber nochmals: das ist weder zu verlangen noch auch realistisch zu erwarten. Wer hier eine Erwartungshaltung aufbaut, dreht das Verhältnis von Tätern und Opfern um. Niemand weiß, wie tief die Verwundung ist, der erlittene Schmerz brennt. Das Einzige, was bleibt, ist eschatologisch zu hoffen, dass Gott hier noch zu heilen vermag.

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Die Prävention von sexuellem Missbrauch ist ein komplexes Thema, mit sehr unterschiedlichen Facetten.

Frage: Besteht nicht immer die Gefahr, dass solche feststehenden theologischen Begriffe das Leid der Opfer relativieren? Ist die Theologie vielleicht deshalb so zurückhaltend beim Thema Missbrauch?

Striet: Ich bin mir da nicht sicher. Insgesamt ist die Theologie – ich vereinfache hier drastisch – sicherlich noch viel zu stark in den Vorstellungen einer klassischen Dogmatik verhaftet, die von einem guten Anfang ausgeht, dann mit einem Sündenfall des Menschen und dann der Satisfaktion durch  das Kreuzesopfer rechnet. Frömmigkeitsgeschichtlich hat das dazu geführt, dass das erlittene Leid von Menschen relativiert wurde, weil alles auf das je größere Leid, das Leiden Christi, konzentriert wurde und überhaupt ja ein jeder Mensch zunächst einmal selbst Sünder war. Theologisch ist hier umzudenken.

Das organisierende Prinzip der Theologie kann nicht die Sündenverfallenheit aller sein. Was sollte eine solche Theologie noch zu sagen haben bezogen auf Kinder, die zu Gewaltopfern wurde? Bezogen auf Menschen, die in ihrer Sexualität durch Missbrauch zutiefst beschädigt wurden? Die Vorstellung des guten Ausgangspunktes ist fallen zu lassen. Der Mensch ist das Ergebnis evolutiver Prozesse, die Ausbildung sexuellen Begehrens ist Teil dieser Prozesse. Bevor man hier moralisch oder gar theologisch wertet, ist dies erst einmal zur Kenntnis zu nehmen. Alles andere ist theologische Kreativhermeneutik, führt zu nichts – außer dazu, dass Menschen beschädigt werden.

Von Agathe Lukassek