"Franziskus trifft den Nerv"
Frage: Herr Abtprimas, ist dieser Papst ein Revolutionär?
Notker Wolf: Ja! Franziskus steht für einen Paradigmenwechsel, für eine neue Sicht von Kirche, die ganz vom Evangelium her kommt: Die Kirche ist nicht nur eine hierarchisch strukturierte Institution, sondern wir alle sind Kirche und wir alle zusammen verkünden die frohe Botschaft. Es braucht natürlich eine Leitung, aber ALLE müssen ihren Beitrag leisten. Franziskus nimmt die Christen ernst. Ihm ist nicht zuerst die Struktur wichtig, sondern er fragt nach den Inhalten: Worum geht es eigentlich in der Kirche, was ist die Kirche? Er hat einen Traum, eine Vision, oder wissenschaftlich formuliert: er will ein neues Paradigma.
Frage: Hätten Sie sich ein solches Schreiben auch von Benedikt XVI. vorstellen können?
Wolf: Nein. Frühere Päpste waren zu sehr im europäischen Raum sozialisiert. Sie gingen zuerst von der Institution aus. Das ist Kirche im Abstrakten. Franziskus sieht die Kirche im Konkreten. Er sieht die Menschen.
Frage: Papier ist geduldig. Inwiefern wird sich das Gesicht der katholischen Kirche nach "Evangelii Gaudium" konkret verändern?
Wolf: Das muss jetzt der Reihe nach durchbuchstabiert werden. Natürlich wird es auch zu etlichen Veränderungen in der Kirchenstruktur kommen. Franziskus sieht auch die Unfehlbarkeit des Papstamtes in einem anderen Licht. Für ihn muss das Kirchenoberhaupt nicht auf alles eine immer richtige Antwort geben. Außerdem möchte er den Bischofkonferenzen mehr Gewicht geben. Probleme der Ortskirchen sollen auch von den Ortskirchen gelöst werden. Beispielsweise die Affäre um den Bischof von Limburg – das ist keine universalkirchliche Frage, das könnte auf nationaler Ebene gelöst werden. Ähnlich ist es auch mit einer Anpassung der Liturgie an den jeweiligen Kulturkreis. Universalkirchlich sind dagegen Fragen der Armut, der Migration, des Klimaschutzes.
Frage: Gibt es in dem Dokument eine Stelle oder einen Themenbereich, den Sie als Ordensmann besonders hervorhebenswert finden?
Wolf: Für mich ist entscheidend, dass das Schreiben aus der betenden Lesung des Evangeliums kommt. Das ist ja unsere monastische Art, die Dinge von der frohen Botschaft her zu sehen, das Evangelium sozusagen tagaus, tagein betend wiederzukäuen. Kirche ist nicht primär ein Ergebnis einer historischen Entwicklung. Aus der Rückbesinnung auf die Schrift können ganz konkrete Schlüsse gezogen werden. Zum Beispiel, wenn es um Herrschaft geht. Da heißt es im Evangelium: 'Wer bei Euch groß sein will, der soll Eurer Diener sein'. Das ist doch ein massives Wort Jesu – und es kann übertragen werden auf die Frage, wie Bischöfe mit den Priestern umgehen oder Priester mit ihren Gemeinden. Einige Hirten wollten den päpstlichen Fragebogen zu Familienthemen nicht an die Gemeindemitglieder weitergeben. Aber warum diese Angst vor den Gläubigen? Die muss abgebaut werden. Wir sind ja in der Pastoral im Dienst der Gläubigen, nicht die Gläubigen sind im Dienst der Pfarrer und der Hierarchie. Das ist das, was ich mit einem Paradigmen- oder Perspektivwechsel Franziskus' meine.
Frage: In einem Satz erklärt Franziskus, ihm sei eine 'verbeulte Kirche", die auf die Straßen hinausgegangen sei, lieber als eine, die an ihrer Verschlossenheit und Bequemlichkeit krankt. Wo sehen Sie heute eine solche Bequemlichkeit?
Wolf: Wir sind eine Wohlstandskirche. Das gilt auch für Deutschland, wo die Kirche in ihren ausufernden Strukturen geradezu erstickt. Von Caritas bis Kirchensteuer – alles ist wunderbar geregelt. Aber am Schluss merken wir, dass wir uns seit dem Zweiten Vatikanum in einem immer stärkeren Bürokratismus bequem eingerichtet haben - und die Leute uns davon gelaufen sind.
Es gibt aber auch eine innere Bequemlichkeit. Die Kirche hat Angst vor Experimenten, vor Neuem, vor Meinungsverschiedenheiten. Wir sollten wieder mehr streiten! Wenn wir in die Johannesbriefe schauen oder in den ersten Korintherbrief: Damals haben Christen auch gestritten.
Frage: "Evangelii Gaudium" ist auch außerhalb der Kirche auf sehr positives Echo gestoßen: Inwiefern kann der Papst den Erwartungen an ihn überhaupt gerecht werden?
Wolf: Die Erwartungen mögen überhöht sein, aber Franziskus trifft den Nerv. Es gibt in der Gesellschaft einfach eine unglaubliche Sehnsucht nach der Botschaft, die die Kirche weiterträgt: nach Ehrlichkeit, nach Offenheit, nach Zuwendung, danach, als Mensch angenommen zu werden. Es herrscht oft keine Ehrlichkeit in der Politik und keine Ehrlichkeit in der Wirtschaft. Und in diesem Kontext spüren die Menschen: Jetzt kommt endlich mal einer, der genau das verkörpern möchte, der nicht gleich mit dem Katechismus in der Hand daher kommt, sondern der ihnen versichert: Ihr habt alle Platz bei uns.
Das sieht man am Beispiel des interreligiösen Dialogs. Oft wird von Muslimen gefordert: 'Ihr müsst den christlichen Minderheiten in Euren Ländern die gleichen Rechte geben, wie sie die Muslime in christlichen Ländern haben'. Franziskus sagt ähnliches, aber er bittet darum. Darin kommt eine Demut zum Ausdruck, die das Gegenüber viel mehr öffnet, als etwas harsch zu fordern. Franziskus ist Diener und er möchte, dass auch unsere Kirche wieder eine Dienende wird. Und für diese Ehrlichkeit haben die Menschen ein Gespür.
Das Interview führte Gabriele Höfling