Wie partizipative Kirchenentwicklung aussehen kann

Gemeinsam für eine neue Idee von Kirche

Veröffentlicht am 09.07.2017 um 13:23 Uhr – Lesedauer: 
Kirche

Bonn ‐ Gemeinsam die Zukunft von Kirche zu gestalten ist der Wunsch bei partizipativer Kirchenentwicklung. Ein Beispiel: die Pfarrei St. Ursula im Frankfurter Norden. Dort haben sich viele Menschen über Jahre engagiert.

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Das war ein schmerzhafter Einschnitt für viele Gläubige: 2012 begann das Bistum Limburg, Pfarreien aufzulösen und zu größeren Seelsorgeeinheiten, sogenannten "Pfarreien neuen Typs" zusammenzulegen. Wie die meisten deutschen Bistümer reagierte Limburg damit auf die sinkende Zahl der Mitglieder und Seelsorger. 50 "Pfarreien neuen Typs" sollen es 2020 einmal sein. Doch viele Gläubige wollten das Wegbrechen der gewohnten Strukturen nicht einfach hinnehmen, sondern mitgestalten – wie in der Pfarrei St. Ursula in Oberursel und Steinbach nördlich von Frankfurt am Main.

Vor fünf Jahren wurden auch dort mehrere Pfarreien zu einer großen zusammengelegt – und die Gemeindemitglieder erst einmal vor vollendete Tatsachen gestellt. Schnell fanden sich jedoch engagierte Haupt- und Ehrenamtliche, die ihre neue Pfarrei inhaltlich ebenso neu ausrichten wollten. 2014 gingen sie schließlich ihren sogenannten Visionsprozess an: An dessen Ende sollte eine Antwort auf die Frage stehen, wie ihre Idee von Kirche aussieht. Sie wollten so viele Gemeindemitglieder und Interessierte wie möglich daran beteiligen.

Inspirationen aus der Weltkirche

Das können Kleiderkammer, Kirchenchor oder Katechese sein. Der Ansatz der partizipativen Kirchenentwicklung geht jedoch weiter und nimmt sich Beispiele aus der Weltkirche zum Vorbild, wie die Basisgemeinden aus Lateinamerika, die Kleinen Christlichen Gemeinschaften in Asien oder die "Fresh expressions of church" in der anglikanischen Kirche. Diesen Modellen folgend wollen auch deutsche Pfarreien weg von der "Versorgungskirche" hin zu gemeinschaftlich gelebtem Glauben: Aus dem Evangelium soll sie vor Ort das Zeugnis Jesu erlebbar machen.

Linktipp: Die Pfarrei neuen Typs

Die alte Pfarrei hat ausgedient – auch im Bistum Limburg. Vor sieben Jahren gab es den Startschuss für eine Neuausrichtung der Seelsorge und damit auch für neue Strukturen. Der Reformprozess mit seinen Vor- und Nachteilen ist aber noch im vollen Gange. (Artikel vom November 2015)

Aber die Beispiele aus der Weltkirche lassen sich nicht eins zu eins auf deutsche Gemeinden übertragen. "Es geht vielmehr darum, die Inspiration dahinter zu entdecken und diese für sich aufzugreifen", erklärt Jaqueline Schlesinger, missio-Diözesanreferentin und Referentin für Entwicklung von Kirche vor Ort im Bistum Limburg. Sie hat den Prozess in der Pfarrei St. Ursula mitbetreut. "Zum Beispiel gibt es in vielen Gemeinden nach wie vor den Wunsch, dass Kommunionkinder nach ihrer Erstkommunion weiterhin kommen und sich ihre Familien einbringen. Aber lässt sich das wirklich noch mit der Lebenswirklichkeit von Familien heute in Einklang bringen?", fragt die Referentin. Wieso sollte nicht stattdessen die Kirche Angebote schaffen, die den Familien dienen? In dem Fall könne das der ganz spezifische Auftrag der Kirche vor Ort sein. Das individuell herauszufinden, sei ein umfangreicher und langwieriger Prozess – der jedoch nicht abschrecke, im Gegenteil: "Die Nachfrage ist von allen Seiten immens groß", so Schlesinger.

Um möglichst viele Menschen zu beteiligen, machte die Pfarrei St. Ursula ihren ersten Schritt zur eigenen Idee von Kirche mit einem großangelegten Interview. Dazu stellte ein Projektteam vor zwei Jahren zehn Fragen zu Glauben, Leben und Kirche und einen Joker ("Was hätten Sie gerne gefragt werden wollen?") zusammen. Damit ausgestattet suchten sich freiwillige Interviewer ihre Interviewpartner selbst aus. "Wir haben keine repräsentative Umfrage unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten angestrebt", erklärt Pastoralreferentin Susanne Degen. "Es ging uns vielmehr um Begegnung und darum, zu sehen, was Menschen bewegt", sagt die Referentin.

Die Idee dabei: "Nicht ausschließlich mit der katholischen Kerntruppe zu sprechen", wie Harald Schwalbe es ausdrückt. Er hat ehrenamtlich im Organisationsteam den Prozess mitgestaltet. Bei der Wahl von Interviewpartnern sei es darauf angekommen, solche zu suchen, mit denen es zu einem konstruktiven Gespräch kommen würde. Die Interviewten konnten überdies entscheiden, welche und wie viele Fragen sie beantworten.

Bild: ©katholisch.de

Die Vision der Pfarrei kann auf der Internetseite eingesehen werden.

Schließlich beteiligten sich 63 Freiwillige, die 350 Teilnehmern die Fragen vorlegten. Bei den Interviews hätten sie viel Persönliches erfahren, worüber man sonst vielleicht nie gesprochen hätte, berichten Degen und Schwalbe: Welchen Halt beispielsweise ein Befragter in einer schweren Krise im Glauben gefunden habe, das besondere Ehrenamt, dass andere Befragte schon seit Jahrzehnten ausübe, oder die Gewandtheit, mit der manche im Interview von Gott reden konnten, aber auch Erfahrungen von persönlicher Ausgrenzung durch die Kirche. Pastoralreferentin Degen hat dazu viele positive Rückmeldungen bekommen: "Es hieß: Was auch immer aus dem Prozess wird, schon allein für die Interviews hat es sich auf jeden Fall gelohnt."

220 Interviewte diskutierten mit

Für den nächsten Schritt wurden die Antworten gesammelt und – ganz analog – auf dem Boden des Gemeindesaals nach Oberthemen sortiert. Alle Interviewten wurden zudem zu einem Visionstag im Juni 2016 eingeladen: Es kamen 220 Teilnehmer. Sie konnten auf Grundlage der Interviews noch einmal Themen benennen, die sie in der Vision ausformuliert haben wollten. "Das hat sehr gut funktioniert", resümiert Degen. Zum Schluss fasste eine Redaktionsgruppe die Ergebnisse zu einem Text zusammen. Nach einer weiteren Veranstaltung, bei der die Beteiligten Rückmeldungen zum Entwurf geben konnten, wurde die Vision mit dem Titel "Offen miteinander Glauben leben" schließlich am Pfingstmontag 2017 offiziell vorgestellt.

Ihre Vision haben die Beteiligten mit acht Verben charakterisiert – glauben, ausstrahlen, öffnen, wertschätzen, einladen, beteiligen, verändern, handeln – und darunter all die Vorschläge zusammengefasst, die aus dem Prozess heraus eine Antwort auf die Frage nach ihrer Idee von Kirche geben kann. "Wir gehen mit unseren Unvollkommenheiten geschwisterlich um", ist etwa unter "wertschätzen" zu finden, und unter "verändern" steht beispielsweise "Wir stellen uns kritischen Auseinandersetzungen und vertrauen dabei auf Gottes Beistand". Der Text wurde auch auf der Internetseite der Pfarrei veröffentlicht.

Linktipp: Über den eigenen Kirchturm hinausschauen

Für die Pastoral auf Pirsch: 40 Freiwillige aus dem Bistum Speyer wollen in vier Ländern erleben, was Kirche dort lebendig macht. Die Kundschafter sollen frische Impulse für ihre Diözese mitbringen. (Artikel vom August 2016)

Nun soll der nächste Schritt, die Umsetzung, erfolgen – auch wieder gemeinsam, im November ist eine Veranstaltung dazu geplant. "Wir wollen dazu motivieren, dass das jeder auf seine Weise umsetzt", erklärt Degen das Konzept – egal, ob derjenige im Pfarrgemeinderat sitze, Katechese mache oder bisher einfach nur Gottesdienstbesucher gewesen sei. "Durch die Mitbeteiligung haben wir Menschen zu Eigentümern dieser Vision gemacht, die es vorher nicht waren", meint Schwalbe. Dieses Vorgehen findet er sinnvoll: "Es fängt bei den Menschen an und versucht, Kirche von dort aus zu definieren." Dafür lohne es, sich einzusetzen.

Die Menschen mitnehmen und überzeugen: Genau darin sieht Johannes Duwe die große Chance dieser Prozesse für die Kirche in Deutschland. Er ist Referent für Kleine Christliche Gemeinschaften und partizipative Kirchenentwicklung bei missio Aachen. "Denn auch, wenn hier viele Menschen scheinbar mit Kirche und Glaube nichts anfangen können, sind sie trotzdem auf der Suche nach mehr." Da könne man ansetzen, zum Beispiel, indem man Präsenz vor Ort zeige und den Menschen diene, für sie da sei – "eben Kirche so zu leben, dass man vom Evangelium Zeugnis gibt." Dazu brauche die Kirche neue Visionen. "Und die entstehen nur auf Initiative ihrer Mitglieder", ist er überzeugt.

Doch dass das nicht von heute auf morgen gelingen kann, zeigt sich auch am "Visionsprozess" der Pfarrei Oberursel/Steinbach: Wer alle mit einbeziehen möchte, braucht viel Zeit – und Geduld. "Dieser Prozess ist ein Perspektivwechsel", beschwichtigt auch Referentin Schlesinger. "Und der ist kein Umbau, den kann man nicht verordnen."

Von Johanna Heckeley