Berliner Historiker Borgolte über die Muslime in Europa

"Islam gehört zu den Fundamenten deutscher Kultur"

Veröffentlicht am 12.05.2016 um 12:20 Uhr – Von Christoph Arens (KNA) – Lesedauer: 
Islam

Berlin ‐ In einer Umfrage sagt die Mehrheit der Deutschen, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört. Der Historiker Michael Borgolte hat sich mit dem Thema befasst - und ist ganz anderer Meinung.

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Frage: Herr Professor Borgolte, für die AfD gehört der Islam nicht zu Deutschland. Wie sehen Sie das als Historiker?

Borgolte: Auch viele andere Politiker argumentieren ja, dass zwar die Muslime zu Deutschland gehören, aber nicht der Islam. Ich finde diesen Streit ziemlich unerquicklich und wenig hilfreich. Aber aus der Sicht des Mittelalterhistorikers muss ich die Prioritäten umkehren und klar formulieren: Nicht die Muslime gehören zu Deutschland, aber der Islam gehört zu den Fundamenten europäischer und deutscher Kultur.

Frage: Wie kommen Sie zu dieser Aussage?

Borgolte: Einerseits lebt eine größere Anzahl von Muslimen erst seit der Anwerbung türkischer Gastarbeiter ab 1961 in Deutschland. Zwar gab es auch schon am Hof Karls des Großen im 9. Jahrhundert oder im 18. Jahrhundert in Preußen eine Handvoll muslimischer Diplomaten oder Kriegsgefangener, aber sie haben sicherlich das Land nicht geprägt. 

Frage: Und andererseits?

Borgolte: Andererseits haben muslimische Gelehrte im Mittelalter ganz wesentlich dazu beigetragen, das Wissen über griechische Philosophie und Naturwissenschaften zu erhalten und ins lateinische Europa zu übertragen. Ob in Bagdad oder im muslimischen Spanien: Islamische Gelehrte haben die Texte der griechischen Philosophen und Denker in die Volkssprache übertragen und von dort wurden sie ins Lateinische übersetzt. Ohne den Islam keine Scholastik, keine Universitäten und keine Wissenschaft in unserer heutigen Form. Ohne die Vermittlung antiker Kulturgüter durch Muslime und übrigens auch Juden hätte es den Aufstieg des europäischen Westens seit dem hohen Mittelalter nicht gegeben. Wir profitieren also heute noch von diesen islamischen Gelehrten.

Drei Frauen mit Kopftüchern gehen am 04.09.2014 durch die Innenstadt von München.
Bild: ©picture alliance / dpa

Islamische Zeichen in der Öffentlichkeit, wie etwa das Kopftuch, werden in Deutschland immer wieder zum Stein des Anstoßes. Dabei prägten Muslime das öffentliche Leben schon vor Jahrhunderten, sagt der Historiker Michael Borgolte.

Frage: Aber ist dieser Einfluss nicht eine kurze Episode geblieben?

Borgolte: Das ist richtig. Die welthistorisch bedeutsam gewordene Wissenschaftskultur hat sich an den Universitäten der lateinischen Christenheit entwickelt. Gegen den vielfachen Widerstand des christlichen Klerus ist das Wissen der Griechen an den Universitäten Europas aufgenommen und weiterentwickelt worden. Die lateinischen Christen haben aus den ihnen zugekommenen geistigen Gütern mehr gemacht als Muslime und auch griechische Christen, aber sie haben auf fremden Fundamenten weitergebaut. Der Islam hat keine gleichartige und -wertige Forschungskultur entwickelt.

Frage: Woran lag das?

Borgolte: Im damaligen Zentrum der islamischen Welt, in Bagdad, haben die Kalifen das öffentliche Forschen und Denken schlicht unterbunden. Privat durften die islamischen Gelehrten Studien betreiben und auch lehren. Aber der Transfer an die öffentlichen Bildungseinrichtungen war verboten. In Spanien standen die Muslime im Spätmittelalter stark unter dem Druck der Reconquista. Einzelne Gelehrte haben deshalb zur christlichen Wissenschaft beigetragen, aber eine eigene Agenda konnten die Muslime nicht mehr entwickeln.

Frage: Hat der Islam Europa nicht auch negativ geprägt: Durch die Bedrohungsgefühle, die die Türken etwa im 16. und 17. Jahrhundert auslösten?

Borgolte: Ich bin da sehr zurückhaltend. Natürlich gab es die Angst vor den Türken, die etwa Auswirkungen auf die katholische Glaubenspraxis hatte - nehmen Sie nur den Kult um den Maurentöter, den Apostel Jakobus, und die Jakobuswallfahrten nach Santiago de Compostela. Und natürlich gab es im östlichen Mitteleuropa die Sorge vor weiteren osmanischen Eroberungen. Aber wenn man sich etwa die Akten der katholischen Konzile und weitere kirchliche Quellen anschaut, dann merkt man, dass der Islam für das heutige Deutschland und das westliche Europa eher kein Thema war. Darüber hinaus waren die Fronten zwischen christlichen und muslimischen Staaten keineswegs fest gefügt. Das katholische Frankreich hat durchaus mit den Osmanen gegen die katholischen Habsburger paktiert. Man muss aufpassen, dass man heutige Konflikte nicht einfach auf die Vergangenheit projiziert.

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Gräueltaten gehören nicht zum Islam, islamisches Leben jedoch sehr wohl zu Deutschland. Viele Muslime erklären das immer wieder. So etwa Aiman Mazyek in seinem neuen Buch über muslimischen Alltag.

Frage: Sie erwähnten Spanien. Es gibt also in Europa durchaus auch Länder, in denen nicht nur die islamische Kultur sondern auch die Muslime eine größere Rolle spielten...

Borgolte: Ja. Und das gilt nicht nur für Spanien und Italien. Auch in Litauen und Ungarn gab es im Spätmittelalter muslimische Gemeinden und muslimische Siedlungsinseln, die schon vor den Osmanen-Eroberungen bestanden haben. Ungarn etwa war multireligiös, weil es auch größere jüdische Gemeinden gab. Und der von der katholischen Kirche als Heiliger verehrte König Stefan hat auch griechisch-orthodoxe Klöster und Bistümer gegründet. Das wird von der heutigen ungarischen Regierung gern übersehen.

Frage: Wie christlich war denn Europa im Mittelalter wirklich?  

Borgolte: Europa war niemals einheitlich christlich geprägt, die christliche Mission hat den europäischen Kontinent zu keiner Zeit vollständig erfasst, und im übrigen waren neben dem fortbestehenden Heidentum oder Polytheismus zwei andere monotheistische Religionen verbreitet, das Judentum und der Islam. Der Islam war ein Bestandteil Europas seit dem achten Jahrhundert, und als er ab dem dreizehnten Jahrhundert aus den großen Halbinseln des westlichen Mittelmeers vertrieben wurde, rückten im Osten die islamisierten Türken vor. 

Frage: Gibt es aus Historiker-Sicht eine Antwort darauf, ob der Islam zu Deutschland und Europa passt? 

Borgolte: Der grundlegende und welthistorisch wohl einzigartig erfolgreiche Mechanismus der Geschichte Europas ist die Fähigkeit zu ständiger produktiven Auseinandersetzung mit fremden Einflüssen. Europas Geschichte ist besonders dynamisch geworden, weil jede erreichte Einheit durch aufbrechende Dissonanzen sogleich wieder in Frage gestellt wurde. Christen, Juden und Muslime haben sich zeitweise bekämpft, aber das führte nie zur kompletten Ausrottung der anderen. In diesen Religionen gab es Schutzvorschriften und es gab Dialog und gelungenes Zusammenleben. Europa war und ist also durch das Wechselspiel von Integrationen und Desintegration geprägt. Das ist anstrengend, aber schöpferisch.

Für die Anhänger von Frauke Petrys Alternative für Deutschland (AfD) steht fast ausnahmslos fest: Der Islam gehört nicht zu Deutschland.
Bild: ©picture alliance / dpa

Für die Anhänger von Frauke Petrys Alternative für Deutschland (AfD) steht fast ausnahmslos fest: Der Islam gehört nicht zu Deutschland.

Hintergrund: Studie untersucht Einstellungen zum Islam

Für knapp zwei Drittel der Bundesbürger gehört der Islam einer Umfrage zufolge nicht zu Deutschland. 34 Prozent der Befragten teilen diese Ansicht nicht, wie eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap ergab. Demnach ist die Skepsis gegenüber dem Islam bei den FDP- und den AfD-Anhängern unter den Befragten besonders groß. 76 Prozent der FDP-Anhänger finden, dass diese Religion nicht zu Deutschland gehört - bei den AfD-Anhängern sind es 94 Prozent.

Eine Mehrheit der Befragten zeigt sich beim Thema Islam außerdem enttäuscht von den etablierten Parteien. 58 Prozent finden, diese kümmerten sich nicht ausreichend darum, dass Sorgen und Bedenken gegenüber dem radikalen Islam ernst genommen würden. 38 Prozent der Befragten äußerten sich zufrieden. Dass angesichts des Flüchtlingszuzugs der Einfluss des Islam hierzulande zu stark wird, befürchten 52 Prozent der Deutschen. 47 Prozent teilen diese Sorge nicht.

44 Prozent der Menschen befürchten zudem, dass die Zuwanderung die Art und Weise des Zusammenlebens zu stark verändern werde - mehr als jeder Zweite ist anderer Meinung. Angst vor einem terroristischen Anschlag von Islamisten in Deutschland haben 72 Prozent der Befragten. Das sei der höchste Wert, den Infratest dimap bei dieser Frage bislang gemessen habe, hieß es. Für die Erhebung wurden 1.003 Menschen vom 2. bis zum 3. Mai befragt. (KNA)

Von Christoph Arens (KNA)