Ist das der älteste Priester Deutschlands?
Das Wohnzimmer ist aufgeräumt und freundlich eingerichtet. Überall stehen Fotos. In der Küche nebenan kocht die Haushälterin, die aus Polen kommt, frische Hühnersuppe. Bruno Kant wirkt munter und zufrieden. Auch wenn er sich immer mehr aus der Gemeinschaft zurückzieht, wie er erzählt. Weil er nicht mehr so gut hören kann, trägt er seit kurzem ein Hörgerät. Seit seinem 100. Geburtstag bereitet sich der Priester bewusst aufs Sterben vor. Ein Interview (geführt im Juli 2018).
Frage: Pfarrer Kant, denken Sie oft ans Sterben?
Kant: Ich rechne jeden Tag damit, dass der Herrgott mich holt. Nicht dass ich mich dabei beeilen will, aber ich bitte beim Abendgebet immer um eine gute Sterbestunde. Ich bete so: "Jesus, Maria und Josef, euch schenke ich mein Herz, meinen Leib, meine Seele. Steht mir bei im letzten Streit. Lasst meine Seele mit euch in Frieden scheiden."
Frage: Waren Sie gerne Pfarrer?
Kant: Ja, ich bin seit 68 Jahren Priester und habe es keinen Tag lang bereut. Allein hier in Löschenrod war ich 15 Jahre lang als pensionierter Kaplan tätig und die Menschen haben mir immer viele positive Rückmeldungen gegeben und das hat mich glücklich gemacht.
Frage: Was hat Ihnen nicht an Ihrem Beruf gefallen?
Kant: Ich habe manche Geistliche beneidet, die ihre Predigt aus dem Handgelenk geschüttelt haben. Das konnte ich nicht. Ich musste mich immer intensiv und lange darauf vorbereiten. Aber wenn die Leute nach der Messe gesagt haben, unser Pfarrer predigt gut, dann war ich dankbar.
Frage: Was würden Sie heute predigen?
Kant: "Seid gute katholische Leute, liebt den Herrgott, liebt euch selbst. Das ist die Botschaft Jesu. Die Welt allein kann euch nicht glücklich machen, dazu braucht ihr noch mehr: den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Das sind die drei wichtigsten Tugenden, die wir im Leben niemals verlieren dürfen." Das habe ich jetzt auch meinem Bruder ins Album geschrieben, als er 100 Jahre alt wurde. "Alt werden heißt auch Abschied nehmen von vielem, was einem lieb und teuer war. Wichtig ist, dass Glaube und Hoffnung und Liebe übrig bleiben, dann ist es auch noch wert, alt zu werden und alt zu sein."
Frage: Wovon mussten Sie im Leben Abschied nehmen?
Kant: Ich musste viele liebe Menschen loslassen und am Sterbebett verabschieden. Das war immer sehr schmerzlich. Was mir auch wehtut ist, dass ich nicht mehr so gut hören kann und komplett auf die Musik verzichten muss. Ich habe früher Flöte, Gitarre und Klavier gespielt. Das geht heute alles nicht mehr. Ich besitze auch eine große Plattensammlung. Doch wenn ich Musik höre, klingt das alles nur nach Krach. Auch die Orgel in unserer Kirche macht nur noch Krach in meinen Ohren. Ich finde keine Freude und kein Entzücken mehr daran. Das ist so schade. Bis zum meinem 100. Geburtstag bin ich noch selbst am Altar gestanden und habe Gottesdienste gefeiert. Bis vor kurzem bin ich auch noch mit meinem Auto herumgefahren. Das alles geht jetzt aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Aber für den Rest, den ich noch tun kann, bin ich dem Herrgott dankbar.
Frage: Wie sind Sie so alt geworden?
Kant: Das weiß ich nicht. Ich hatte acht Geschwister. Zwei davon leben noch. Eine Schwester ist ein Jahr älter als ich und mein Bruder ist vor kurzem 100 Jahre alt geworden. Eine andere Schwester ist einen Tag vor ihrem 100. Geburtstag verstorben. Das war bitter.
Frage: Ist es für Sie ein Geschenk, wenn man so lange leben darf?
Kant: Naja, ich weiß nicht, ob das ein Geschenk ist. In der Bibel steht, der Mensch wird 70 Jahre alt und wenn es hochkommt dann werden es 80 Jahre. Alles, was darüber ist, ist Drangsal und Not. In dieser Phase befinde ich mich nun. Aber ich nehme mein Alter gerne aus Gottes Hand an. Wenn der Herrgott es so will, dann wird es wohl so gut sein. Ich mache ihm da keine Vorschriften.
Frage: Sind Ihre Eltern auch so alt geworden?
Kant: Nein, mein Vater ist im Krieg ums Leben gekommen, und meine Mutter ist nur 71 Jahre alt geworden. Aber ich hatte eine alte Tante, die wurde auch 100 Jahre. Als wir das damals feierten, sagte sie uns stolz: "Ich beginne jetzt mein zweites Jahrhundert." Das mache ich jetzt auch. Gott sei Dank hat mir der Herrgott meinen Verstand so einigermaßen gelassen, sodass ich mich noch an vieles gut erinnern kann.
Frage: Erinnern Sie sich noch an Ihre Priesterweihe?
Kant: Ja, denn von dieser Zeit habe ich viele Fotos. Was mir heute auffällt, dass ich immer schon um einiges jünger aussah als die anderen Priester, auch wenn ich mit meinen 34 Jahren damals der älteste war. Vor unserer Weihe im Fuldaer Dom sagte Bischof Johannes Dietz zu mir: "Kant, das war kein guter Mann für uns." Und er hat dabei gelacht. Aus diesem Scherz machte ich mir nichts, denn ich wusste dass er den Philosophen Immanuel Kant damit meinte, der nicht an Gott glaubte. Mir hingegen hat der Glaube an Gott immer viel bedeutet.
Frage: Wann hat Ihnen Ihr Glaube geholfen?
Kant: Im Krieg war der Glaube mein tägliches Brot, denn zu essen gab es damals nicht viel. Ich war zuerst bei der Eisenbahn als Reichsbahninspektor tätig, später wurde ich in die Wehrmacht eingezogen und war nach dem Krieg drei Jahre lang in russischer Gefangenschaft. Dort hatte ich immer ein kleines Gebetbuch dabei, alles andere wurde mir ja abgenommen. Mein Glaube war mein ständiger Begleiter und hat mir unglaublich viel Kraft gegeben. Als ich 1948 aus der Gefangenschaft wieder nach Deutschland zurück kam und per Zufall meine Mutter und meine Schwester ausfindig machen konnte, war das wie ein Geschenk Gottes für mich. Ich zögerte zunächst, ob ich wieder bei der Eisenbahn arbeiten soll oder mein Theologiestudium fortsetze. Ich habe mir überlegt, dass in einer Zeit, wo alles kaputt ist, es vielleicht wichtiger ist, Signale und Weichen für die Seelen der Menschen zu stellen, damit sie gut an ihr Lebensziel ankommen können. So habe ich also nach zehn Jahren Unterbrechung wieder Theologie studiert und wurde 1950 zum Priester geweiht.
Frage: Was ist für Sie ein guter Priester?
Kant: Ein Priester ist ein Bote des Evangeliums, das heißt, er soll das Evangelium Jesu zu den Menschen tragen. Und dabei hat er gewisse Vollmachten: Er kann Sakramente spenden, die Eucharistie feiern und das Wort Gottes verkünden. Aber er soll es nicht nur verkünden, sondern es auch durch sein eigenes Leben beispielhaft vorleben. Das habe ich versucht und ich hoffe, es ist mir gelungen.
Frage: Wie sind Sie mit der Kommunionspendung bei konfessionsverbindenden Ehepartnern umgegangen?
Kant: Ich hatte in meiner Pfarrei immer wieder solche Fälle. Wenn einer gefragt hat, darf meine evangelische Frau auch zur Kommunion gehen, dann habe ich nichts dagegen gehabt. Ich habe immer gesagt, wenn einer vor mir steht und um den Leib des Herrn bittet, den weise ich ihn nicht ab.
Frage: Was wünschen Sie sich für Ihr neues Lebensjahr?
Kant: Seit meinem 100. Geburtstag mache ich mich bereit für die andere Welt. Ich bin mir sicher, dass der Herrgott schon vor der Tür steht und auf mich wartet, um mich in seine Arme zu schließen.
Frage: Und was wünschen Sie der Kirche?
Kant: Gottes Segen, was denn sonst!
Der Artikel erschien erstmals am 16. Juli 2018 und wurde am 26. Februar 2020 aktualisiert.