Kampf gegen das Vergessen
Sie, das sind die Mütter und Väter Argentiniens, die im schmutzigen Krieg unter der Diktatur der Militärjunta (1976-1983) ihre Töchter und Söhne verloren haben. Etwa 30.000 Menschen sollen in dieser Zeit verschwunden sein. "Er ist eine Ungewissheit, er ist ein Verschwundener, er hat keine Zugehörigkeit mehr, er ist weder tot noch lebendig, er ist eben verschwunden", zitiert die Frankfurter Rundschau den damaligen Junta-Chef Jorge Videla zur perfiden Logik des Verschwindenlassens.
Ein staatlicher oder staatlich gebilligter Terror, der nicht nur damals in Argentinien gängige Praxis war, sondern auch heute noch weltweit verübt wird. Ziel ist es nach wie vor, sich der Regimegegner und Unbequemen zu entledigen und Angst zu verbreiten. "Das Verschwindenlassen ist eine extreme Form staatlicher Willkür", sagt Ferdinand Muggenthaler von Amnesty International . "Es stößt Menschen in die absolute Rechtlosigkeit und stürzt ihre Familienangehörigen in tiefe Verzweiflung."
Denn im Prinzip wissen sie, was mit ihren Kindern, Geschwistern und Freunden geschehen ist. Dass sie von Polizei, Militär oder Geheimdiensten gefangen gehalten, gefoltert, ermordet und dann irgendwo anonym verscharrt werden. Noch nie hat sich einer der Verschwunden nach Jahrzehnten zurückgemeldet. Und trotzdem kämpfen Angehörige weltweit um Aufklärung und Gerechtigkeit, und darum, ihren Seelenfrieden wieder zu erlangen.
Kampf gegen das Vergessen
In Argentinien sind die Mütter von der Plaza de Mayo bekannt geworden, die sich seit dem 30. April 1977 jeden Donnerstag zu Protestkundgebungen auf dem zentralen Platz in Buenos Aires treffen. Sie tragen ein weißes Kopftuch als Symbol für die Windel, in die sie ihre Kinder einst wickelten und als Hinweis auf ihre friedlichen Absichten. Damals forderten sie Auskunft über den Verbleib ihrer vermissten Söhne und Töchter. Heute kämpfen sie gegen das Vergessen.
Mit dem gleichen Ziel suchen Forscher seit Jahrzehnten nach anonym Bestatteten auf den Friedhöfen Argentiniens. Sie heben Massengräber aus, sortieren die Knochen und vergleichen die DNA mit der ihrer Verwandten, die bei einer Gen-Datenbank hinterlegt sind. Auf diese Weise werden immer wieder Fälle aufgeklärt. Die juristische Aufarbeitung der Verbrechen gestaltet sich allerdings schwierig. Lange Zeit schützten Amnestiegesetze die Verantwortlichen.
So wurde Junta-Chef Videla erst 2010 wegen seiner zahlreichen Verbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Verlauf des Prozesses übernahm er die volle Verantwortung für die Gräueltaten, die unter seiner Herrschaft begangen worden waren. Er starb drei Jahre später im Alter von 87 im Gefängnis. Um die weltweite Strafverfolgung zu erleichtern verabschiedeten die Vereinten Nationen 2006 eine Konvention, die 2010 in Kraft trat und die bestehende Lücke im Völkerrecht schloss.
Neben vielen anderen Ländern hat auch Deutschland diese Konvention ratifiziert. "Allerdings sind die Forderungen noch nicht vollständig umgesetzt", kritisiert Amnesty-Sprecher Muggenthaler. So gebe es in Deutschland immer noch keinen Straftatbestand des Verschwindenlassens. "Da sehen wir dringenden Nachholbedarf, denn nur so können nach dem Weltrechtsprinzip auch ausländische Täter in Deutschland verfolgt werden."
Verschleppungen auch in Mexiko, China und Syrien
Und das ist umso wichtiger, solange diese Form der Unterdrückung noch in vielen Ländern der Erde ausgeübt wird, ob nun in Mexiko, in China oder in Syrien. "Gerade in Syrien haben wir in den letzten zwei Jahren sehr oft beobachten müssen, dass auch friedliche Demonstranten verschwunden sind, durch regierungstreue Milizen verschleppt." Und auch hier haben die Angehörigen nie erfahren, was mit ihnen geschehen ist.
Auch in Argentinien werden niemals alle Fälle aufgeklärt werden können. Einigen Angehörigen bleibt jedoch eine andere Hoffnung: Sie sind auf der Suche nach ihren Enkeln, also den Töchtern und Söhnen ihrer verschleppten und ermordeten Kinder. Einige hundert, der zwischen 1976 und 1983 verschwundenen Frauen, waren schwanger oder hatten Kleinkinder bei sich. Diese Kinder wurden ihnen in der Gefangenschaft geraubt und von regimetreuen Offizieren zwangsadoptiert.
Die "Bürgerlichen Vereinigung der Großmütter der Plaza de Mayo" hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Nachkommen zu suchen. Sie haben in den letzten Jahren über hundert der zwangsadoptierten Kinder durch Recherchen und den Vergleich von DNA-Proben gefunden. Die heute 30- bis 40-Jährigen wussten nichts von ihrer wahren Identität und müssen nun mühsam lernen, mit der Wahrheit umzugehen. Die Generation ihrer Großmütter unterdessen kämpft weiter um Aufklärung und Gerechtigkeit.
Von Janina Mogendorf