Kinder ohne Kindheit
Rund 50 Kinder und Jugendliche besuchen jeden Tag das Kinder- und Jugendhaus Waldkolonie in Darmstadt. Stellt man sich dieses Haus vor, entsteht im Kopf ein idyllisches Bild. Ein kleines buntes Häuschen am Waldrand, vielleicht noch einen Garten und viel Platz, so dass die Kinder im Grünen spielen können und einfach Kind sein dürfen. Doch diese Vorstellung hat nichts mit der Realität zu tun. Das Kinder- und Jugendhaus Waldkolonie liegt etwas versteckt am Ende einer Sackgasse. Die angrenzende Wohnsiedung ist eher praktisch als schön.
Alle Häuser sehen gleich aus. Alle waren einmal weiß, der letzte Anstrich liegt aber schon sehr viele Jahre zurück. Überall die gleichen Haustüren, Briefkästen, Balkone - als hätte irgendjemand vor vielen Jahren das Klonen entdeckt und das Prinzip an diesen Mehrfamilienhäusern getestet. Nur das Kinder- und Jugendhaus sieht anders aus: zwei Stockwerke, gelb gestrichen, davor eine Schaukel und eine Rutsche.
Kinder ohne Kindheit
Die Kinder und Jugendlichen, die hierher kommen, leben in den umliegenden Häusern. Häufig sind sie Migranten, viele kommen aus Marokko oder der Türkei. Aber auch deutsche Familien, die mit wenig Geld auskommen müssen, leben hier. "Viele Eltern haben mehrere Jobs, um genug Geld für die Familie zu verdienen. Zeit für die Kinder bleibt dann oft nicht mehr", sagt Sozialpädagogin Catherine Alberti-Wiebe vom Kinder- und Jugendhaus Waldkolonie.
15,8 Prozent der Deutschen sind arm
In der EU gilt man als arm, wenn man weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung des eigenen Landes zum Leben hat. Konkret bedeutet das: Wer 2010 in einem Singlehaushaltlebte und weniger als 993 Euro netto im Monat zum Leben hatte, galt als arm. 2011 fielen laut Statistischem Bundesamt 15,8 Prozent der deutschen Bevölkerung unter diese Grenze und waren damit von Armut gefährdet. 5,3 Prozent der Bevölkerung waren sogar von erheblicher materieller Entbehrung betroffen.Regelmäßig erlebt sie, dass die älteren Geschwister die Rolle der Eltern einnehmen müssen, wenn diese auf der Arbeit sind. "Diese Kinder müssen auf die kleineren Geschwister aufpassen, Essen machen, putzen - einfach alles, was sonst eigentlich die Aufgabe der Eltern wäre," erklärt sie. Zwar dürfe man nicht alle Familien über einen Kamm scheren, doch in manchen armen Familien scheint es oft keinen anderen Weg zu geben.
Was fehlt, ist nicht das Geld
Doch es ist selten diese materielle Armut, die Catherine Alberti-Wiebe in ihrer Arbeit erlebt: "Kinderarmut hat sich in meinen Augen in den letzten Jahren stark verändert, sie hat eine andere Ebene erreicht. Heute fehlt jungen Menschen häufig der familiäre Rahmen und das macht ihre Armut aus." Unter diesem Rahmen versteht sie ein Elternhaus, in dem Eltern Interesse an ihren Kindern zeigen, fragen, wie es in der Schule läuft, gemeinsam essen, über Probleme sprechen. Diesen stabilen Rahmen versuchen Alberti-Wiebe und ihre Kollegen den Kindern zu bieten. "Viele Kinder haben großes Potenzial, aber sie haben daheim zum Beispiel nie gelernt, still zu sitzen. Die Folge ist, dass sie das auch in der Schule nicht können und auffällig werden", sagt Alberti-Wiebe.
Wenn sich das Kinder- und Jugendhaus Waldkolonie mittags füllt, ist es wie in einer großen Familie. Es wird zusammen gekocht und gegessen, jeder hat seinen Platz am Tisch. Danach erledigen die Kinder ihre Hausaufgaben, spielen zusammen oder machen Sport. Eigentlich alles, was eine normale Familie auch macht, nur dass die Betreuer nicht die Eltern, und die Kinder und Jugendlichen keine Geschwister sind.