"Kirchenasyl heilt das Versagen der Politik nicht"
Frage: Die ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche hat einen offenen Brief an die gerade tagende Innenministerkonferenz geschrieben. Darin beklagt sie sich über einen zunehmenden staatlichen Druck auf das Kirchenasyl. Wie sieht dieser Druck konkret aus?
Jochims: Der hat ganz unterschiedliche Formen. In letzter Zeit haben einige Gemeinden in Bayern Strafanzeigen bekommen, weil sie Kirchenasyl gewähren. Einige Kirchenasyle wurden geräumt und es gibt von Landkreisen und auf Länderebene immer wieder Schreiben an einzelne Kirchengemeinden, in denen abstruse Forderungen formuliert werden – aus denen letztlich aber schlicht ziemlich deutlich das Missfallen am Kirchenasyl hervorgeht.
Frage: Dabei ist doch zwischen Staat und Kirche der Umgang mit dem Kirchenasyl eigentlich geklärt…
Jochims: Grundsätzlich ja. Es gab zuletzt 2015 hochrangige Gespräche, in denen der Staat seine Akzeptanz für das Kirchenasyl grundsätzlich bekräftigte. Aber je nach politischer Großwetterlage — ob Wahlkampf ist oder nicht, ob Abschiebungen gerade sehr forciert werden oder nicht — schwankt die Toleranz staatlicherseits durchaus. Dann wird kritisiert, dass es zu viele Kirchenasyle gebe, oder es wird angezweifelt, dass es sich dabei wirklich um Härtefälle handelt. Bezüglich der faktischen Akzeptanz des Kirchenasyls gibt es ein ständiges Auf und Ab.
Frage: Wie erklären Sie es sich, dass der Druck von staatlicher Seite gerade jetzt wieder steigt?
Jochims: Das Thema Abschiebung ist viel, viel prominenter als in den letzten Jahren. Es wird sehr viel Wert darauf gelegt, auch öffentlich zu vermitteln, dass rigoros und konsequent abgeschoben wird. Insofern sind Gemeinden, die Kirchenasyl gewähren, immer in der Gefahr, als Abschiebe-Verhinderer gesehen zu werden. Dabei könnte der Staat es ja auch einmal andersherum betrachten: Was sind die Ursachen für das Kirchenasyl? Würden besondere Härten bereits vom Staat besser gesehen, bräuchte es vielleicht auch das eine oder andere Kirchenasyl gar nicht erst.
Frage: Sie diagnostizieren in dem Brief ein "enormes strukturelles Versagen" der europäischen Flüchtlingspolitik. Was genau läuft schief?
Jochims: Geradezu wütend macht uns als Arbeitsgemeinschaft die pauschale Annahme, dass innerhalb Europas schon alles irgendwie gut wäre. Das ist nicht so. Im Gegenteil: Ein Großteil der derzeitigen Kirchenasyle bezieht sich ja auf drohende Abschiebungen innerhalb Europas. Wenn Geflüchtete inhaftiert werden in Ungarn oder Bulgarien, wenn sie obdachlos sind, weil Länder wie Italien mit der Unterbringung heillos überfordert sind, wenn Frauen als Folge davon vergewaltigt werden oder sich prostituieren müssen, dann läuft etwas gewaltig schief. Außerdem sind die Anerkennungs- und Ablehnungsquoten in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich. Es kann passieren, dass Familien mit kleinen Kindern, die hier in Deutschland vor einer Abschiebung nach Afghanistan geschützt wären, aus skandinavischen Ländern direkt nach Kabul zurückgeflogen werden. Das kann man doch nicht akzeptieren.
Linktipp: Handreichung zum Kirchenasyl der Bischofskonferenz
Die "Handreichung zu aktuellen Fragen des Kirchenasyls" der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz finden Sie als pdf-Datei zum Herunterladen unter www.dbk.de in der Rubrik "Veröffentlichungen". Dort kann die Handreichung auch als Broschüre (Die deutschen Bischöfe, Migrationskommission, Nr. 42, Bonn 2015) bestellt werden.Frage: Welches Signal wünschen Sie sich von der gerade tagenden Innenministerkonferenz?
Jochims: Ich wünsche mir einen anderen Fokus auf das Thema Kirchenasyl. Ich wünsche mir Gesprächsbereitschaft, damit wir endlich ernsthaft miteinander überlegen können, wie wir die Missstände innerhalb Europas beseitigen. Im Moment wird bei einem Thema, bei dem es um Menschenleben geht, nicht selten Symbolpolitik betrieben. Europa darf seine Ratlosigkeit im Umgang mit Flüchtlingen aber nicht auf dem Rücken der Schwächsten austragen.
Frage: Aber müssten nicht viel mehr die Menschen im Fokus des Kirchenasyls stehen, denen eine Abschiebung in Bürgerkriegsländer außerhalb Europas droht?
Jochims: Das ist bisher noch nicht akut. Nach Syrien zum Beispiel wird nicht abgeschoben, die Abschiebungen nach Afghanistan kommen jetzt erst langsam in Gang. Aber im Grundsatz stimmt es: An dieser Stelle werden wir unserem Anspruch, Menschen vor Abschiebungen dorthin, wo ihnen Lebensgefahr droht, zu schützen, nicht gerecht. Wir können mit dem Kirchenasyl hier in Deutschland ein grundsätzliches Versagen der europäischen Asylpolitik nicht heilen. Es gibt in Deutschland derzeit etwas über 320 Kirchenasyle, das ist marginal angesichts der Flüchtlingszahlen. Wir können nicht mehr tun als ein Zeichen zu setzen und zu versuchen, ganz besonders eklatante Härtefälle zu verhindern.
Frage: Wie stark sind in den vergangenen Jahren die Anfragen an das Kirchenasyl gestiegen?
Jochims: Die Zahl der Anfragen ist ganz enorm gestiegen. Es gibt schätzungsweise ungefähr 15- bis 20-mal so viele Anfragen wie tatsächliche Kirchenasyle. Das signalisiert die Verzweiflung der Asylbewerber. Und das Zunehmen der Anfragen ist ja keineswegs verwunderlich. Es gibt viel mehr Geflüchtete in Deutschland, und gleichzeitig steigt der gesellschaftliche und politische Druck, Menschen abzuschieben.
Frage: Das Kirchenasyl ist immer wieder in der Kritik – weil sich die Kirchen damit über die staatliche Autorität stellten. Was entgegnen Sie solchen Einwänden?
Jochims: Meine Auffassung ist, dass der Mut und die Wachheit von Kirchengemeinden, sich für Menschenrechte einzusetzen, den Rechtsstaat eher stärken. Kein staatliches Handeln ist unfehlbar. Das kritische und menschliche Mitdenken von Christen — die ja auch Staatsbürger sind — hier zu akzeptieren, und der Bitte um nochmalige Prüfung einzelner Fälle nachzukommen ist eher ein Zeichen der Stärke denn der Schwäche des Rechtsstaates.