Leise Stimme des Gewissens
Doch weshalb all der Ruhm und die Ehre? Ihre Flugblätter haben den Krieg um keinen Tag verkürzt. Wegen ihnen ist kein Soldat weniger gestorben, haben die Nazis keinen Juden weniger vergast.
Der Widerstand der Weißen Rose wurde vielfach mit dem Attribut "christlich motiviert" versehen. Doch die Kirche hat beim Aufbegehren der Geschwister Scholl allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt. Der Historiker Hans Günter Hockerts spricht lieber von einer "christlich-humanistischen Grundsubstanz", die zwar religiös geprägt sei, die mit der Institution Kirche aber nichts zu tun habe.
Es war das Gewissen, das die Geschwister Scholl und ihre Freunde zum Widerstand aufrief. Es sei ihre große Leistung gewesen, dass sie zu einer Zeit widersprochen haben, als die Wehrmacht noch marschierte, meint Karl Hagemann, Pressesprecher des Bistums Münster: "Stalingrad war ja gerade erst passiert; und von den Euthanasie-Programmen, die damals schon bekannt waren, wollte ja niemand etwas wissen. Alles hoffte, dass sich Europa schon irgendwie befrieden wird, wenn der Krieg erst einmal gewonnen ist."
Schritt für Schritt in den Widerstand
Der Weg in den Widerstand war kein harter Bruch mit dem Nationalsozialismus, sondern ein schleichender Prozess. So erzählte es Elisabeth Hartnagel, Schwester von Hans und Sophie Scholl, 2003 im Spiegel-Interview. Das Gefühl des großen Aufbruchs und der Gemeinschaft hätte die beiden der Hitlerjugend beziehungsweise dem Bund Deutscher Mädel nahegebracht. Der gigantisch-demagogisch inszenierte Reichsparteitag in Nürnberg war laut Martin Kugler von der Tagespost die Wende für Hans Scholl: "Was andere betört und betäubt, nabelt ihn Schritt für Schritt von der HJ ab." Nach dem Abitur musste er den Reichsarbeitsdienst ableisten, anschließend wurde der Medizinstudent in die Wehrmacht einberufen und in den Semesterferien als Sanitäter an die Front geschickt. Was er dort erlebte, bewog ihn zum Widerstand; zurück in München gründete er mit den Kommilitonen Alexander Schmorell, Willi Graf, Christoph Probst und dem Philosophie-Professor Kurt Huber die weiße Rose.
„Es ist ihre große Leistung gewesen, dass sie zu einer Zeit widersprochen haben, als die Wehrmacht noch marschierte.“
Seine Schwester habe schon vorher zu zweifeln begonnen. Elisabeth Hartnagel beschreibt die Zeit beim BDM: "Wir haben das weiter gemacht, was wir vorher auch gemacht hatten: Fahrten, Mutproben oder Heimabende. Insofern war das eine unpolitische Sache. Dann sahen wir, dass man nicht mehr lesen durfte, was man wollte. Es wurde ja alles gleichgeschaltet. Dann kam die Rassengesetzgebung, und jüdische Mitschüler mussten die Schule verlassen. 1937 hat die Gestapo meine Schwester Inge und meine Brüder Hans und Werner verhaftet."
Sophie Scholl habe sich durch diese Erlebnisse und während des Reichsarbeitsdiensts immer weiter vom Nazi-Regime entfernt. Im Spätsommer 1942 kamen die Briefe von der Front; Fritz Hartnagel, Lebensgefährte von Sophie Scholl und späterer Mann ihrer Schwester Elisabeth, berichtete aus dem Kessel in Stalingrad: "Schon die ganze Straße vom Don nach Stalingrad ziehen Tausende von Flüchtlingen, Frauen und kleinen Kindern und alten Männern ohne eine Unterkunft, ohne etwas zu essen. Denn aus dem Lande gibt es nichts mehr zu holen." (Brief vom 13. September 1942)
Bereits zuvor hatte Hartnagel von Judendeportationen in den Niederlanden berichtet. "Es ist sehr gut, wenn sich das Regime einmal wirklich entlarvt", zitiert Elisabeth Hartnagel aus einem Brief ihrer Schwester von 1941.
Übermut und Leichtsinn
Fünf Flugblätter, in denen sie zum passiven Widerstand aufforderten, hatten die Mitglieder der Weißen Rose bis zu ihrer Verhaftung erstellt. Sie mahnen, dass "nichts eines Kulturvolks unwürdiger" sei, als sich "ohne Verstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique 'regieren' zu lassen." Sie bezeichnen die Nationalsozialisten als "Krebsgeschwür" und greifen Deutschlands Intellektuelle an, die sich "in ein Kellerloch" flüchteten, um dort als Nachtschattengewächs […] allmählich zu ersticken".
In den Flugblättern finden sich viele Zitate aus der klassischen Literatur von Schiller über Novalis bis hin zu Lao tse und Aristoteles, aber auch viele Bilder aus der christlichen Mythologie. Auffällig ist auch, wie viel die Studenten über den eigentlichen Kriegsverlauf und die Verbrechen der Nationalsozialisten wussten; das entlarvt sämtliche 'Wir wussten doch von nichts'-Floskeln als Lüge. Auch Elisabeth Hartnagel bestätigt im Interview, dass ihre Geschwister nicht mehr als andere wussten. Sie fragten sich, warum das deutsche Volk apathisch zuschaut, während um sie herum der "nationalsozialistische Dämon" wütet.
Am Donnerstag, 18. Februar 1943, begaben sich Hans und Sophie Scholl zur Ludwig-Maximilian-Universität in München. Dabei trugen sie einen Koffer – gefüllt mit dem letzten Flugblatt der weißen Rose. Darin informieren sie ihre "Kommilitoninnen! Kommilitonen!" – so die Überschrift – über die Niederlage von Stalingrad. Es folgt ein weiterer Aufruf zum Widerstand. Die Erfolge zu Beginn hätten sie übermütig werden lassen, meint ihre Schwester. Vielleicht waren die ersten Aktionen einfach zu glatt gegangen. Ihren Plan, am helllichten Tage in der Münchner Universität Flugblätter auszulegen, halten viele Historiker für verwegen. Kurz vor elf Uhr erreichten sie die Universität. Im Lichthof öffnete Hans den Koffer und beide legten etwa 1000 Flugblätter aus – vor den Toren, auf Mauervorsprüngen, am Treppenabsatz. Den Rest warfen sie über die Balustrade. Jakob Schmid war 1943 Hausmeister an der LMU. Er beobachtete die beiden, setzte sie fest und übergab sie der Gestapo.
Ein Schauprozess
In den Verhören leugnete Sophie Scholl zunächst, an der Aktion beteiligt gewesen zu sein. Sie deklarierte die fliegenden Blätter als Malheur – versehentlich mit dem Ellenbogen angestoßen. Ihr Bruder gesteht gleich. Mit dessen Aussage konfrontiert, beschloss auch Sophie die Wahrheit zu sagen. In den Verhörprotokollen fällt auf, dass beide konsequent versuchten, alle Schuld auf sich zu laden und ihre Freunde aus der Affäre herauszuhalten. Dennoch wurden auch sie wenige Tage später verhaftet. In einem Schauprozess verurteilte sie Roland Freisler, der damalige Präsident des Volksgerichtshofs, die beiden Geschwister wegen "Vorbereitung zum Hochverrat, Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung" zum Tode. Er war eigens aus Berlin angereist, um ein Exempel zu statuieren. Nur wenige Stunden später sauste das Fallbeil auf die beiden herunter.
„Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert.“
Leichtsinnig, fast schon naiv sind sie in den Tod gegangen. Ihre Familie hat davon aus der Zeitung erfahren. War also alles umsonst? Im sechsten Flugblatt heißt es: "Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet."
Dass dem nicht so ist, ist zu großen Teilen der Weißen Rose zu verdanken. Britische Soldaten bekamen das Flugbaltt in ihre Hände und warfen es in großer Zahl über Deutschland ab. Schon 1943 hat Thomas Mann in seiner BBC-Ansprache von "dem anderen Deutschland" gesprochen, dass "diese jungen Menschen" repräsentieren. Dessen Sohn Golo Mann schrieb 1945: "Hätte es im deutschen Widerstand nur sie gegeben, die Geschwister Scholl und ihre Freunde, so hätten sie alleine genügt, um etwas von der Ehre des Menschen zu retten, welcher die deutsche Sprache spricht." Neben den 'Männern des 20. Juni' um den Grafen von Stauffenberg und dem Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen war die Weiße Rose das Symbol für ein anderes, besseres Deutschland. Vorbilder, hinter denen sich einige auch versteckt haben.
Mut zur Verantwortung
Doch das ist es nicht, woran Hildegard Kronawitter, Vorsitzende der Weiße-Rose-Stiftung, denkt, wenn sie über die Geschwister Scholl spricht: "Die Gruppe war die Stimme des deutschen Gewissens." Ein Oszilloskop, das zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, stünde jedem gut zu Gesicht: "Und auch, wenn heute niemand mehr sein Leben riskiert, wenn er seine Meinung sagt, seinem Gewissen zu folgen und Verantwortung zu übernehmen, den Mut zu haben, zu Handeln oder Partei zu ergreifen, ist auch heute noch schwierig."
Von Michael Richmann