Liturgie – ein Fremdkörper?
Für die katholische Kirche, aber auch für viele andere christlichen Kirchen und Gemeinschaften, ist der Gottesdienst ein unverzichtbares Grundelement ihrer religiösen Identität. In den bekannten Worten des Zweiten Vatikanischen Konzils: Die Liturgie ist der "Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt" (SC, Nr. 10). Gleichzeitig ist der christliche Gottesdienst in der deutschen wie in anderen europäischen Gesellschaften ein ausgesprochenes Randphänomen, meist eine Veranstaltung für kleine Minderheiten der nominellen Kirchenmitglieder. Wer sich am Sonntagvormittag hierzulande auf den Weg zum Gottesdienst in eine katholische oder evangelische Kirche macht, kann ein Lied davon singen – Ausnahmen bestätigen auch in diesem Fall die Regel!
Der christliche Gottesdienst ist ortlos in der deutschen Gesellschaft
Dieses eklatante Missverhältnis zwischen kirchlichem Anspruch einerseits und kirchlich-gesellschaftlicher Realität andererseits springt ins Auge. Die deutsche Gesellschaft ist insgesamt nicht als "religiös" zu bezeichnen. Vielmehr handelt es sich um eine in ihren Rahmenbedingungen wie in ihren alltäglichen Vollzügen typisch säkulare Gesellschaft, was sich auch auf die normale religiöse Praxis auswirkt, vor allem auf die in den großen christlichen Kirchen übliche.
Der christliche Gottesdienst hat heute hierzulande keine selbstverständliche soziale Funktion und keinen Ort in einem übergreifenden kulturellen Gefüge. Dass bei die Nation bewegenden Anlässen wie seinerzeit bei dem Amoklauf in einem Erfurter Gymnasium oder in einer schwäbischen Realschule, beim schweren Zugunglück im niedersächsischen Eschede oder auch beim Elbhochwasser (ökumenische) Gottesdienste unter Teilnahme politischer Prominenz gefeiert werden, ist der Ausnahmefall, der die Regel bestätigt.
Der christliche Gottesdienst ist unter gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie in der Bundesrepublik gegeben sind, ungeachtet der ausgeklügelten und weithin störungsfreien rechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirche, sozusagen ortlos. Er ist gleichzeitig aber das einzige Ereignis, durch das – wenn auch meist für einen kleineren Kreis- das Christentum als Religion öffentlich sichtbar wird. Die Kirchentüren sind ja während der Gottesdienste nicht verschlossen; jeder kann hineingehen und das miterleben und beobachten, was sich dort vollzieht. Das Christentum ist kein Geheimkult, keine Religion nur für Eingeweihte.
Nur im Gottesdienst gibt es "Christentum pur"
Nur im Gottesdienst kommen die Grundtatsachen des Christentums sozusagen zwangsläufig zur Sprache. Im Gottesdienst rufen Menschen gemeinsam in geprägten Formeln Gott als ihren Schöpfer und Erlöser an, danken ihm und bitten zu ihm. Wo das privat geschieht, ist es normaler Weise nicht identifizierbar. Christliche Nächstenliebe vollzieht sich anonym; ihre Werke werden nicht erst dadurch zu christlichen, dass der Name Gottes oder Jesu Christi als solche genannt werden. Auch christliches Zeugnis kommt in den meisten Fällen indirekt und vermittelt daher, wirkt sogar leicht aufdringlich-platt, wenn es auf diese Indirektheit verzichtet. Nur im Gottesdienst gibt es demgegenüber "Christentum pur", wenn auch von Anfang an kulturell- religiös eingekleidet.
Schon aus diesem Grund kann es Christen und Kirchen ganz und gar nicht gleichgültig sein, ob und wie ihr Gottesdienst von den Zeitgenossen wahrgenommen wird und gegebenenfalls beurteilt wird. Mehr noch: Sie sollten alles daran setzen, den Gottesdienst so zu gestalten und zu vollziehen, dass er Ausstrahlungskraft und Glaubwürdigkeit über einen engen Kreis von "Eingeweihten" hinaus gewinnt, in diesem Sinn "attraktiver" wird. Nach der bekannten Formulierung in der Ordensregel des Heiligen Benedikt soll dem Gottesdienst nichts vorgezogen werden. Das gilt auch für die Bemühungen in den Kirchen um seine gegenwärtige Verortung beziehungsweise Neuverortung. Dafür gibt es allerdings keine Patentrezepte, wohl aber verschiedene Ansatzpunkte, an denen sich die Akteure und kirchlichen Verantwortlichen orientieren können, natürlich ohne jedenfalls kurzfristige Erfolgsgarantie.
Es bräuchte eine Diversifizierung der gottesdienstlichen Formen
Das erste wichtige Stichwort für die Suche nach Perspektiven für den Gottesdienst ist das der Vielfalt. Es führt unter den gegenwärtigen gesellschaftlich- kulturellen Verhältnissen kein Weg an einer Diversifizierung der gottesdienstlichen Formen vorbei, vor allem im Blick auf die katholische Kirche. Neben die Vollform der Eucharistiefeier sollten je nach Anlass und Adressatengruppe in größerem Umfang freier gestaltete Formen des Gottesdienstes treten. Die durch die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils erneuerte Eucharistiefeier der katholischen Kirche ist ein in der Tradition verankertes, ausgeklügeltes Gesamtkunstwerk, das sorgsame Pflege verdient, aber kann nicht der Gottesdienst "for all seasons" sein, auch nicht die einzige Form des sonn- und feiertäglichen Gemeindegottesdienstes. Das Nebeneinander von Hauptgottesdiensten mit und ohne Abendmahlsteil in der evangelischen Liturgie könnte eine Piste sein, die sich für die katholische Kirche zu verfolgen lohnen würde.
Es wären regelmäßig oder auch bei besonderen Anlässe nichteucharistische Gottesdienste vorstellbar, bei denen etwa der Musik (sei es dem gemeinsam gesungenen Lied, der solistisch oder chorisch vorgetragenen Vokalmusik oder auch der reinen Instrumentalmusik) ein größerer Stellenwert eingeräumt würde, als das im Rahmen der Eucharistiefeier möglich und sinnvoll ist. In anderen Gottesdiensten könnten Wortbeiträge im Vordergrund stehen, von literarischen Texten in Kombination mit Schrifttexten bis zu kurzen Betrachtungsimpulsen, in wieder anderen Hinführungen zu Bildern oder Statuen in der jeweiligen Kirche, die dann für sich selber sprechen könnten.
Die katholische Kirche verlässt sich zu sehr auf den eingespielten liturgischen Rahmen
Auf jeden Fall müsste die Engführung auf die Eucharistiefeier aufgebrochen werden, nicht zuletzt im Interesse der dringend erforderlichen Elementarisierung des Gottesdienstes. Gemeint ist damit nicht die leider verbreitete Simplifizierung mit dem pädagogischen Zeigefinger, sondern die bewusste Konzentration auf das eine oder andere Grundelement von Gottesdienst (Stille, Gebet, Gesang/ Musik, Auslegung). Das wäre ein gutes Gegengewicht zu den heute nicht selten zu beobachtenden Versuchen, von allem etwas in die eine Eucharistiefeier hineinzupacken, die dadurch tendenziell ihre Form zu verlieren droht.
Verstärkte Bemühungen um gottesdienstliche Vielfalt müssen nicht zwangsläufig mit der Pflege der gottesdienstlichen Tradition kollidieren. Das gilt für beide großen Kirchen hierzulande: Die Gottesdienste freier evangelischer Gemeinden haben vielerorts großen Zulauf, durch ihre charismatischen Elemente, ihren ansprechend-lockeren Stil, ihre Gemeinschaftsbezogenheit. Die Attraktivität solcher Gottesdienste ist sicher eine Anfrage an den evangelischen Gemeindegottesdienst in der hergebrachten Form. Aber es wäre kein angemessener Ausweg aus der Krise von Gottesdienst und Gottesdienstbesuch in der evangelischen Kirche, nur noch auf Gottesdienste freikirchlich-charismatischen Typs zu setzen und die auf die Reformationszeit zurückgehenden Formen der "Deutschen Messe" einerseits und des "oberdeutschen" Predigtgottesdienstes andererseits preiszugeben. In beiden Fällen handelt es sich nicht nur um in sich stimmige Gottesdienstformen, sondern auch um herausragendes religiöses Kulturgut, genauso wie bei den Liedern aus der Reformations- und Barockzeit, die im evangelischen Gottesdienst ihren festen Platz haben.
Es dominieren freihändiger Stil und phantasielose Regeltreue
Im katholischen Bereich sind die Gewichte anders verteilt, besteht die Konkurrenz zwischen mehr traditionsgesättigten und frei gestalteten Gottesdiensten nicht im selben Maß wie auf evangelischer Seite. Es gibt ja kein katholisches Pendant zu den freien evangelischen Gemeinden außerhalb der Landeskirchen. Der immer noch nicht ausgestandene Streit um die "alte Messe" interessiert jedenfalls hierzulande nur eine kleine Minderheit der regelmäßigen, kirchlich engagierten Gottesdienstbesucher.
Eher gibt es Auseinandersetzungen in Bezug auf den Stil, in dem in den Gemeinden der Gottesdienst, in der Regel also die Eucharistiefeier, gestaltet wird. Zum Teil dominiert ein eher "freihändiger" Stil vor allem in Familien- und Kindergottesdiensten, zum Teil hält man sich strenger – und oft auch phantasieloser – an das liturgische Regelwerk. Die durch das Konzil erneuerte gottesdienstliche Tradition der katholischen Kirche wird nicht grundsätzlich problematisiert. Insgesamt hat man eher den Eindruck, die katholische Kirche hierzulande verlasse sich zu sehr auf den festgeschriebenen und eingespielten liturgischen Rahmen, der oft mit viel improvisierter Flexibilität gefüllt wird, und nehme dabei die tiefgreifenden Herausforderungen für den christlichen Gottesdienst nicht genügend wahr.
Sorgfalt in Sprachen und Gesten
Um diesen Herausforderungen seriös gerecht werden zu können, bräuchte es vor allem eine gehörige Portion Sorgfalt, und zwar bei möglichst vielen Akteuren und Verantwortlichen. Sie sollte sich nicht zuletzt im Umgang mit der Sprache im Gottesdienst zeigen, aber auch in der Art, wie liturgische Gesten gehandhabt werden. Was die Sprache betrifft: Es gibt auf der einen Seite eine Fremdheit alter, geprägter Texte im Gottesdienst, die nicht aufzuheben ist. Das gilt für die Texte des Ordinariums, ebenso wie für antike oder mittelalterliche Hymnen, auch wenn sie in deutschen Nachdichtungen gesungen werden. Es gilt natürlich auch für etliche Schrifttexte, nicht zuletzt für nicht wenige alttestamentliche Psalmen, die im katholischen wie evangelischen Gottesdienst Verwendung finden. Dass in ihm längst vergangene Sprachwelten noch im lebendigen Vollzug vorkommen, noch rezitiert oder gesungen werden, ist ein Charakteristikum des christlichen Gottesdienstes, das ihn sperrig und in einem gewissen Sinn für sensible Zeitgenossen auch interessant macht. Er darf dadurch allerdings nicht zu einem bloßen Museum werden.
Linktipp: Wie ein Schauspieler Gottes Personal fit macht
Stimmt die Körperhaltung? Ist die Stimmlage angenehm? Und ist der Leiter des Gottesdienstes wirklich bei der Sache? Bei der Schulung ihres Personals holt sich die Kirche gerne Rat von Schauspielern.Um dem entgegenzuwirken, soll und muss im Gottesdienst neben alten Texten auch die Sprache der Gegenwart ihren Platz haben, sowohl in Form der Predigt wie in Lied- und Gebetstexten. Es handelt sich dabei in beiden Fällen allerdings um ein ausgesprochen heikles Feld. Wo schludrig, formelhaft und oberflächlich- uninformiert gepredigt wird, der unerlässliche Aktualitätsbezug zu platt daherkommt und die Predigt auch noch zu lang ausfällt, schadet sie dem Gottesdienst mehr als dass sie ihm als belebendes Element aufhelfen würde. Das gilt für evangelische und katholische Gottesdienste gleichermaßen.
Sprachliche Defizite in neuerem Liedgut
Anschauungsmaterial für sprachliche Defizite bei neuen Liedtexten liefert nicht zuletzt das vor wenigen Jahren im größten Teil des deutschen Sprachraums eingeführte katholische Gebet- und Gesangbuch "Gotteslob". Das neue Gotteslob enthält dankenswerter Weise viele qualitätsvolle Liedtext älterer und neuerer Autoren. Aber daneben finden sich im Stammteil wie in den Diözesanteilen auch nicht selten ziemlich banale Reimereien, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. Zwei Beispiele sollen an dieser Stelle genügen: "Fische tummeln sich im See und Schwäne ziehen Kreise. Ein jedes Tier, ob Hund oder Reh, das regt sich auf seine Weise" (Nr. 462); oder: "Dann geh mit uns vom Berg hinab ins Tag der Alltagssorgen und sei uns Weg und Wanderstab durchs Kreuz zum Ostermorgen" (Nr.363). Durch Texte solchen und ähnlichen Zuschnitts ist dem Gottesdienst unter den gegenwärtigen Verhältnissen auf keinen Fall aufzuhelfen, genau so wenig allerdings wie durch die Flucht in altes liturgisches Sprachmaterial oder gar in die von Erzbischof Marcel Lefebvre fälschlicherweise so betitelte "messe de toujours" ("Messe aller Zeiten").
Ein Pfund, mit dem die Kirchen wuchern können
Es ist kaum zu erwarten, dass die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland in den nächsten Jahren einen Aufschwung in dem Sinn erleben, dass die Zahl ihrer Mitglieder und deren Bindung an die kirchliche Gemeinschaft zunehmen. Eher ist mit eine weiteren Erosion der Kirchenbindung und der christlichen Tradition zu rechnen. Es dürfte auch keine breite Welle neuen religiösen Interesses durchs Land gehen; das Land wird vermutlich kaum religiöser werden.
Die gesellschaftlichen und religiösen Vorzeichen für den christlichen Gottesdienst stehen also nicht gerade günstig. Die Kirchen können zwar um ihrer Identität willen nicht auf ihn verzichten, in welcher Form sie ihn auch künftig feiern werden. Er bleibt sicher eines der großen Pfunde, mit denen sie wuchern können Es wird aber viel davon abhängen, dass sie ihre Gottesdienste nicht auf vordergründige Effekte trimmen, sondern sie klug und phantasievoll vorbereiten und gestalten und dabei die "Unterscheidung der Geister" zu ihrem Recht kommen lassen. Sie brauchen auf jeden Fall einen langen Atem: Vielleicht wird dann doch der eine oder andere Zeitgenosse neugierig.