Nachfolgen heißt heute: Vorangehen
Frage: Herr Sellmann, der Gottesdienstbesuch ist mit rund 10 Prozent in den vergangenen Jahren konstant niedrig, die Zahl der Kirchenaustritte relativ hoch. Was macht die katholische Kirche in Deutschland falsch?
Sellmann: Ich würde gerne betonen, dass sie eine Menge richtig macht. Wie viele andere Organisationen – zum Beispiel Parteien, kommunale Ämter oder Sportvereine – ist die Kirche natürlich in einem starken Umbruch, weil sie auf gesellschaftliche Herausforderungen kreativ reagieren muss und möchte. Allerdings sind die Deutschen insgesamt doch sehr kirchenfreundlich und voller Erwartung an eine gute, nützliche und höfliche Kirche.
Frage: Also steht es gar nicht so schlecht um die Kirche in Deutschland?
Sellmann: Ich glaube nicht. Als Soziologe kann ich erst einmal rein äußerlich festhalten, dass wir eine hohe Zahl an Hochzeiten, Taufen oder kirchlichen Beerdigungen – also an den Kasualien – haben. Zudem gibt es bei den Menschen eine ebenso hohe Zufriedenheit bei den lokalen Dienstleistungen. Heißt: Die meisten Menschen sind damit zufrieden, wie ein Priester oder auch ein Laie zum Beispiel eine Beerdigung gestaltet. Die kirchlichen Berufe haben insgesamt ein gutes Prestige. Und drittens haben wir eine hohe Bereitschaft der Deutschen, die Arbeit der Kirche mitzufinanzieren. Wir reden bei der evangelischen und katholischen Kirche ja nicht von einem kleinen Dorfverein.
Linktipp: Zahl der Kirchenaustritte gesunken
Auch wenn die Zahl noch immer hoch ist: 2015 traten deutlich weniger Gläubige aus der katholischen Kirche aus als im "Rekordjahr" 2014. Das zeigt die aktuelle Kirchenstatistik der Deutschen Bischofskonferenz. (Artikel vom Juli 2016)Frage: Dennoch gehen nur 10 Prozent der Gläubigen sonntags in die Kirche…
Sellmann: Man muss beachten, aus welchen Zeiten die Vergleichszahlen kommen, um sie bewerten zu können. Wir vergleichen sie immer mit der Hochlaufkurve der 1950er und 1960er Jahre oder gar der Vorkriegszeit. Dabei muss man sehen: Die berühmte Volkskirche ist kirchengeschichtlich ja eher ein Wimpernschlag. Nirgendwo steht, dass Christsein so stark und so institutionell mit der Gesellschaft verbunden sein muss, wie das in Deutschland und Westeuropa in den vergangenen 150 Jahren der Fall war. Ich kann also auch sagen: Wow, es gehen extrem viele Deutsche am Sonntag zum Gottesdienst. Fast 2,5 Millionen Menschen sind mindestens einmal im Monat dort. Das schafft kein Theater oder keine Mannschaft in der Fußball-Bundesliga. Wir müssen uns aber von dem Denken verabschieden, dass die Kirche einmal in der Woche den Anspruch auf eine Stunde Lebenszeit der Gläubigen hätte. Diese Idee ist – übrigens auch aus theologischen Gründen – obsolet.
Frage: Wie meinen Sie das?
Sellmann: Es geht um die freiheitliche Selbstbestimmung des Einzelnen. Sie ist das Grundcredo einer modernen Gesellschaft. Und damit tut sich die Kirche von den Gemeinden bis zu den Bischöfen hin noch immer recht schwer. Seit dem 19. und 20. Jahrhundert hat sich ein stark verkirchlichtes Christentum zementiert, das enorme Erwartungen hinsichtlich Zugehörigkeit, Bindung, Beobachtung, Bewertung und auch Kontrolle kultiviert hat. Früher hat die Kirche ja sogar vor der Freiheit gewarnt. Heute sagt der Einzelne: Was zwischen mir und meinem Gott oder mir und meiner Transzendenz oder meinem "Energiefeld" oder wie auch immer passiert, das geht nur mich etwas an. Diese religiöse Emanzipation erinnert ein wenig an die sexuelle Revolution der 1960er Jahre. Darin sehe ich eine große Herausforderung, aber auch die Chance der Kirche: weg von der Kontrollmacht hin zur Befreiung zur Lebens- und Gesellschaftsqualität.
Frage: Für das "Energiefeld" mag das unproblematisch sein, aber die katholische Kirche hat eine Lehre und eine Tradition, aus denen sich etwa mit dem Kirchenrecht und dem Katechismus auch gewisse Regeln für die Gläubigen ergeben. Ist der radikale Freiheitsgedanke damit kompatibel?
Sellmann: Ich hoffe doch sehr! Unser ganzes Gottesbild gerät doch sehr in intellektuelle Widersprüche, wenn wir nicht Freiheit als DNA des Christseins herausarbeiten können. Wie sollte man den jüdisch-christlichen Gott behaupten, der Anerkennung, Schöpfung und Kreativität ist, ohne die Freiheit und damit auch eine freiheitliche Beziehung zwischen ihm und den Menschen mitzudenken? Ich denke auch, dass sich etwa das Kirchenrecht als eine Freiheitsordnung lesen lassen muss. Die Existenz eines rechtlichen, institutionellen oder auch liturgischen Rahmens bedeutet ja auch erst einmal keine Freiheitsfeindlichkeit. Allerdings kennen wir es bisher nur so, dass Autorität, Bindung, wechselseitige Kontrolle und Sanktionen eine sehr große Rolle spielen. Und das bricht uns jetzt nach und nach weg.
Frage: Aber die Kirche wird das Sonntagsgebot nicht einfach abschaffen…
Sellmann: Man muss schauen, welchen Sinn solche Regelungen haben und von diesem Sinn her muss man sie als diskutabel anbieten. Zu Ihrem Beispiel: Der Katechismus und auch das Kirchenrecht gehen davon aus, dass die Menschen, an die sie sich richten, in einer lebendigen Gottesbeziehung leben und in dieser Beziehung – zusammen mit der Gemeinschaft der Gläubigen – auch wachsen wollen. Für diesen Fall rät der Katechismus dazu, diese Beziehung an einem Sonntag öffentlich auszudrücken. Von jemandem, der nicht aus einer solchen Beziehungserfahrung lebt, kann ich das aber nicht über Nacht erwarten. Da muss ich dann als Glaubensgemeinschaft werben und überzeugend vorleben. Ich muss die Sonntagsliturgie, aber auch andere Inhalte, als attraktives Ziel darstellen können; eine reine Forderung richtet da schlicht nichts mehr aus. Und das ist doch auch gut so.
Frage: Trotz allem steht die Kirche vor einem Problem. Die Eucharistie ist die Quelle und Höhepunkt des kirchlichen Lebens. Aber es gibt in Deutschland immer weniger Menschen, die sie empfangen und weniger Priester, die sie spenden. Müssen wir Kirche und Christsein ganz radikal neu denken?
Sellmann: Ja, darauf sollten wir uns einstellen. Und das macht doch auch den Adel unserer pastoralen Gegenwart aus: dass wir in einer Umbruchszeit leben und sie gestalten können. Nachfolgen heißt heute: Vorangehen. Und Christsein heißt als Lebensentwurf: sich so geben, dass auch Andere geben wollen. Das ist unmittelbar eucharistisch. Wir kommen aus einer Anspruchshaltung volkskirchlicher Zeiten, die aufgrund eines Überangebotes unter anderem auch zu einer fast monokulturellen Eucharistiefrömmigkeit und -praxis geführt hat. Man kann die Eucharistie aber auch ganz anders denken: etwa als Lebens- und nicht immer sofort als sakramentales Empfangsmodell. Wie lebe ich eucharistisch? Wie werde ich selbst zur Gabe, wie lebe ich Gabenbereitung in meiner Existenz, und wie wird auf diese Art und Weise die "Welt" in ihr Besseres verwandelt? Wenn wir als Glaubende als Gebende erkennbar werden, werden sich auch die Rollen von Priestern und Laien verändern. Der Priester ist dann wieder mehr als ein "Eucharistiespender" am Wochenende. Ich bin davon überzeugt, dass auch wieder mehr junge Leute Priester werden wollen, wenn wir Eucharistie als Identitäts- und Verwandlungsfeier und nicht nur als Sonntagspflicht begehen. Ein priesterliches Leben an sich ist ja eine sehr attraktive Existenzform.
Frage: Auch mit Zölibat?
Sellmann: Auch mit Zölibat. Der Zölibat ist schließlich eine der ältesten und in vielen Religionen praktizierte Lebensform. Auch für ihn gilt wie für alle religiösen Inhalte, dass er je glaubwürdiger wirkt, je freiheitlicher er gelebt wird. Es gibt ja auch viele Künstler, Politiker, Unternehmer, Mediziner und andere bewusste Singles, die auf eine exklusive Liebesbeziehung verzichten, um universal für Andere verfügbar zu sein.
Frage: In fast allen Bistümern arbeitet man an neuen pastoralen Konzepten. Taugen die, um den von Ihnen angesprochenen gesellschaftlichen Entwicklungen gerecht zu werden?
Sellmann: Ich finde das Meiste in den diözesanen Prozessen sehr nachvollziehbar, zum einen theologisch, zum anderen auch schlicht aus kirchenpolitischer Verantwortung. Die große Chance ist, dass sich mit den erweiterten pastoralen Räumen neue Zwischenräume und bisher unentdeckte und ungenutzte Gelegenheiten auftun. Neben der klassischen Gemeinde sollten etwa auch die Verbandsgruppen, die Kindertagesstätten, die Sozialstationen, aber auch die youtube-Kanäle, Pilgerstätten oder Traukirchen als Kirchorte und Bezugspunkte entdeckt werden. Allerdings kommen die Veränderungen nicht allein durch einen Verwaltungsakt und neue Grenzziehungen. Es braucht Innovationen auf vielen Gebieten, von einer Verwaltungsreform in den Generalvikariaten über die Neubildung pastoraler Berufsbilder und einer spannenderen Pastoraltheologie bis hin zu geistlichen Aufbrüchen. Wir brauchen eine neue, mutige und magnetisierende Antwort auf die Frage, was es der modernen Gesellschaft heute nützt, wenn Christinnen und Christen in ihr leben. Was bedeutet es heute, so katholisch zu sein – und für wen? Um das herauszufinden, benötigen wir vor allem Experimente im Kleinen, um zu schauen, ob das Ganze dann auch für Größeres taugt.
Frage: Sieht und merkt man den Kirchorten überhaupt an, dass sie kirchliche Einrichtungen sind?
Sellmann: Klar ist jedenfalls, dass eine kirchliche Einrichtung sich nicht in erster Linie dadurch auszeichnet, dass im Eingangsbereich eine große Heiligenstatue steht oder dass Bibeln ausgelegt werden. Die komplizierte Frage, woran man institutionell Christlichkeit erkennt, kann ich hier nicht beantworten. Entscheidend aber scheint mir, dass die Antwort nicht ängstlich nach innen gehen sollte nach dem Motto: Erfüllen wir die Kriterien der Kirchlichkeit? Sondern nach außen, etwa gemäß folgender Fragen: Befördern wir Humanität? Streben wir nach exzellenter Dienstleistung in unserer Branche? Machen wir Andere groß – Mitarbeiter wie Kunden und Klienten? Findet man bei uns Stil, Kultur, die Kraft spiritueller Wege? Sind wir nützlich? Bewähren wir uns auch jenseits von Subventionen und Komfortzonen? Erlebt man uns als innovativ? Und fragt man sich, wenn man uns erlebt, woher der Spirit kommt, der uns zu all dem befähigt?
„Wir als evangelische und katholische Christen haben so viele so gute Geschichten unter uns und so viele hervorragende 'Storyteller'.“
Frage: Wie kann das Christsein im Alltag fernab von Institutionen heute gelingen?
Sellmann: Ein Vorschlag unter vielen anderen, der mir aber sehr wichtig wäre: Wir sollten viel häufiger gute Geschichten erzählen. Alltagsgeschichten normaler Leute aus einer Lebenskultur des Gebens: vom Sohn, dessen Mutter immer schlecht zu ihm war, der sie aber trotzdem in ihrem Alter respektiert und würdevoll pflegt – und der das tut, weil er ein Christ sein will. Oder vom Mann, der immer ein Playboy war, sich aber sehr verändert hat, als er die Frau seines Lebens kennenlernte. Und der auch ein Christ sein will. Vom Bischof, der seine Berufung finden will; von der Ordensfrau, die in Gott verliebt ist; von dem Unternehmer, der seine Firma durch schwere Jahre rettet; der Dorfgemeinschaft, die erkennt, wem es schlecht geht. Die Evangelien sind Sammlungen von Geschichten und Jesus war ein begnadeter Erzähler. Wir alle brauchen solche Episoden des Wahren, Guten und Schönen. Und die sollten richtig satt und gut medial kommuniziert sein: als Formate auf Youtube, als Podcasts, auf Screens in unseren Städten, in den Channels und auch in Radio und Fernsehen. Wir als evangelische und katholische Christen haben so viele so gute Geschichten unter uns und so viele hervorragende "Storyteller". Nur wissen die meisten leider noch nicht, dass sie das sind und können.
Frage: Wie geht es nun weiter mit der Kirche?
Sellmann: Eine große Frage! Ich denke schon, dass Vieles zu Ende geht, weil es nicht mehr vereinbar ist mit einer freiheitlichen religiösen Selbstbestimmung. Und ich wiederhole: Wenn das der Grund ist, geht damit keine Tradition verloren, die für uns als Kirche konstitutiv wäre. Dieser Übergang kann jedoch friedlich passieren und als Herausforderung erlebt werden oder mit Verbitterung und Ressentiments aufgeladen sein. Die Frage ist, ob wir der Zukunft eine Chance geben oder ob man sie nur als Karikatur dessen ansehen kann, was man selber gewohnt war.
Frage: Die Kirche in Deutschland kann aber gewisse Entscheidungen auch nicht alleine treffen...
Sellmann: Dennoch könnte die Dezentralisierung, wie sie sich auch Papst Franziskus immer wieder wünscht, weiter voranschreiten. Es ist in komplexen Zeiten ja ohnehin ein Missverständnis, dass der starke Mann oder die starke Frau an der Spitze ein funktionsfähiges Steuerungsmodell wäre. Macht hat, wer Macht gibt. Wenn wir nur auf die Idee einer gewieften Kirchenrechtlerin oder eines charismatischen Bischofs warten, dann warten wir sicher noch lange. Wir brauchen eine Erweiterung der Löserbasis, wie das in der Innovationstheorie heißt: Mehr gute Leute mit mehr belastbaren Ideen in mutig ergebnisgesteuerten Prozessen. Es ist sicher wichtig, den Bischofskonferenzen mehr Macht zu geben, um auf die jeweiligen gesellschaftlichen Herausforderungen reagieren zu können. Darüber hinaus braucht es aber vor allem einzelne Christen und durch sie gebildete Interessengruppen, die die Initiative vor Ort ergreifen und Menschen in ihr Lebens- und Aktionsmodell involvieren können.