Name: unbekannt
Im Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau stehen ihre Schicksale bis Ende Juni im Mittelpunkt einer Ausstellung mit dem Titel "Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern". Es ist auch eine Erzählung über den Triumph des Lebens angesichts des drohenden Todes. Zusammen haben die 15, die als Kinder gerettet wurden, mittlerweile 106 Kinder und Enkelkinder.
Joanna Sobolewska-Pyz, Vorsitzende der Gesellschaft der Kinder des Holocaust, musste teilweise lange Überredungsarbeit leisten: Die eigene, sehr persönliche Lebensgeschichte ins Museum? Die Konflikte mit den Eltern, das Hadern mit der unbekannten Identität? Davor scheuten viele, die sie für das Ausstellungsprojekt ansprach, zurück.
Auf der Suche nach der eigenen Identität
"Es ist halt doch ein sehr sensibles Thema", sagt die 75-jährige. Die energisch hinter den Brillengläsern blitzenden Augen lassen vermuten, dass die klein gewachsene, resolute Frau sich nicht so schnell abweisen lässt. Und tatsächlich, 15 Mitglieder der Gesellschaft ließen sich dann doch porträtieren, mit Bildern ihrer Adoptiveltern, teilweise auch mit Bildern ihrer biologischen Eltern. "Ich wusste, dass die Bilder unserer jüdischen Eltern ein Problem sein würden", erzählt Sobolewska-Pyz über die Vorbereitung. "Aber nachdem ich erst einmal vielen von den Plänen erzählte, kamen die Fotos - aus Israel, aus Frankreich, aus Kanada und allen Ecken der Welt."
Denn während einige der porträtierten "Kinder des Holocaust", alle zwischen 1939 und 1942 geboren, bis heute vergeblich nach ihrer eigentlichen Identität forschen, kannten andere schon früh die Namen ihrer jüdischen Familie. Sie waren in die Obhut von Freunden, Nachbarn oder des einstigen Kindermädchens gegeben worden. Auch wenn die Erinnerung an die früheste Kindheit allenfalls schattenhaft war, konnten die "polnischen Eltern" nach dem Krieg mit ihren Erzählungen eine Brücke in die Vergangenheit der jüdischen Familie ihrer Kinder bauen.
Keine Erinnerung an das "erste Leben"
Doch viele Adoptiveltern von Kindern, die zu jung waren, um sich an ihr "erstes Leben" zu erinnern, schwiegen. Manche offenbarten erst kurz vor ihrem Tod, dass sie nicht die leiblichen Eltern waren, andere Kinder lernten erst nach Bemerkungen oder Hänseleien von Fremden, dass sie in einem Ghetto geboren worden waren. Bis heute versuchen die "Kinder des Holocaust", anderen Überlebenden bei der Suche nach ihrer Identität zu helfen.
"Wenn ich von meinen Eltern spreche, dann denke ich immer an meine 'zweiten' Eltern, denn andere kenne ich nicht. Sie haben mir alles gegeben: Liebe, ein Zuhause und die Regeln für ein anständiges Leben", erzählt Joanna Sobolewska-Pyz in der Warschauer Ausstellung. An ihr erstes Leben erinnert sich die wenige Wochen vor dem deutschen Überfall auf Polen geborene Warschauerin nicht.
Sie weiß, sie war bei ihren Eltern im Ghetto, sie weiß, auch ihre Eltern müssen auf dem Umschlagplatz in die Züge in das Vernichtungslager Treblinka gestiegen sein, wo sie wie mehr als 300.000 Warschauer Juden ermordet wurden. "Ich glaube, sie haben bis zuletzt gewartet, sie hofften auf ein Wunder", meint die Frau mit den kastanienbraunen Locken.
Ein polnischer Polizist schmuggelte sie im April 1943 aus dem Ghetto, übergab sie der ehemaligen Lehrerin ihrer Mutter. Die konnte das fast vierjährige Mädchen nicht aufnehmen, weil sie bereits ein anderes Kind bei sich versteckte - doch sie fand neue Eltern, Anastazja und Walerjan Sobolewski.
Geboren unter einem glücklichen Stern
Erst als 18-jährige erfuhr Sobolewska-Pyz, dass sie ein jüdisches Mädchen war, das aus dem Ghetto gerettet wurde. "Es war ein großer Schock. Es fühlte sich an, als habe mein ganzes Dasein von einem Moment auf den anderen aufgehört. Alles, was ich über mich wusste, war plötzlich nicht mehr wahr."
Sie suchte nach Spuren der "anderen" Welt - in Archiven, in Israel. Sie hatte Glück - die Namen ihrer leiblichen Eltern, Halina und Tadeusz Grynszpan, waren den polnischen Eltern bekannt. In Großbritannien und Israel fand sie Verwandte, die den Holocaust überlebt hatten. Ihr Engagement bei den "Kindern des Holocaust", wurde für Sobolewska-Pyz zum Lebensinhalt. Trotz ihrer tragischen Familiengeschichte sagt sie: "Ich wurde unter einem glücklichen Stern geboren. Ich habe in meinem Leben viel mehr Gutes als Schlechtes erfahren."
Ein ganzes Leben mit falschen Papieren
Teresa Wieczorek hingegen hadert mit der Ungewissheit ihrer Identität. "Ich habe mein ganzes Leben mit falschen Papieren gelebt. Ich weiß nicht, wann ich geboren wurde, wie ich hieß und wer meine Eltern waren. Das kann ich einfach nicht akzeptieren." Die Frau mit den langen blonden Haaren und den blauen Augen, deren Aussehen ihr während der deutschen Besatzung das Überleben leichter machte, glaubt und hofft, dass irgendjemand aus ihrer Familie überlebte. "Aber in all den Jahren habe ich keine Spur gefunden."
"Ich werde immer nur 'Name: unbekannt' sein", sagt auch Dorota Szalajka. "Ich weiß nichts über mich, und das wird sich nie ändern." Als etwa zweijähriges Mädchen wurde sie im Dezember 1942 in einem Waisenhaus im ostpolnischen Lublin aufgenommen. Als Erwachsene fand sie bei Nachforschungen den Eintrag: "Name unbekannt", stand dort. Das Unwissen ist eine Wunde, die auch nach Jahrzehnten schmerzt.
Stichwort: Maximilian-Kolbe-Werk
Das Maximilian-Kolbe-Werk setzt sich für Überlebende der nationalsozialistischen Konzentrationslager und Ghettos in den Ländern im Osten Europas ein. Neben direkter finanzieller Unterstützung organisiert die katholische Hilfsorganisation Erholungs- und Kuraufenthalte in Deutschland und in den Herkunftsländern der Überlebenden. Ein wichtiger Arbeitsbereich ist Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit. So werden Treffen zwischen Jugendlichen und Zeitzeugen organisiert, deutsche Jugendliche zu Begegnungstreffen eingeladen oder Seminare über Erinnerungsarbeit an die NS-Zeit angeboten. Gegründet wurde das Kolbe-Werk 1973 von deutschen Christen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg für die deutsch-polnische Aussöhnung einsetzten. Namensgeber ist der von den Nationalsozialisten im Konzentrationslager Auschwitz ermordete Franziskanerpater Maximilian Kolbe (1894-1941). Er war anstelle eines Mithäftlings und Familienvaters freiwillig in den berüchtigten sogenannten "Hungerbunker" gegangen. Die katholische Kirche sprach den Franziskaner 1982 heilig.Barbara Lesowska blickt vor allem dankbar zurück auf ihre Familie, die jüdische wie die polnische: "Ich habe dank meiner polnischen Mutter überlebt", sagt die jugendlich wirkende Frau mit der dunklen Lockenmähne. "Dank ihr bin ich diejenige, die ich heute bin." Ihre Eltern, Tauba und Mordko Rochman, waren mit ihr und ihrem älteren Bruder aus dem Ghetto von Belzyce bei Lublin geflohen und versteckten sich in einer Scheune. Doch als das erst elf Monate alte Mädchen erkrankte, wandten sie sich im Dezember 1942 an eine gute Bekannte, Antonina Krosnicka. Sie sollte sich ein paar Tage um das Mädchen kümmern, während die Eltern ein neues Versteck für die Familie suchten.
Doch Wochen vergingen, und die Eltern kamen nicht zurück. Antoninas Tochter Natalia, eine kinderlose Witwe, wurde zur neuen Mutter des Kindes, auch wenn sie sich anfangs sträubte, ein jüdisches Kind ohne Papiere aufzunehmen - auf das Verstecken von Juden stand schließlich die Todesstrafe. Ein Priester half schließlich, taufte das kleine Mädchen und "verjüngte" die 41-jährige Natalia auf dem Taufschein, damit sie als leibliche Mutter glaubwürdiger wirkte.
Angst vor Entdeckung oder Verrat
Doch die Angst vor Entdeckung oder Verrat blieb. "Nach der Befreiung wollte Mutter nicht in Belzyce bleiben", heißt es auf Lesowskas Portät in der Ausstellung. Mit gutem Grund; Zwei Holocaust-Überlebende, die in die Kleinstadt zurückkehrten, wurden von polnischen Nachbarn ermordet. Erst vor kurzem machte die zehnfache Großmutter Verwandte in den USA und in Israel ausfindig. Und auch ihre Enkel kennen die Geschichte ihrer "zwei Mütter" - bei der Eröffnung der Ausstellung im Warschauer Museum waren einige von ihnen dabei.
Auch Maria Kowalska wusste von frühester Kindheit an, dass ihre leiblichen Eltern Chana und Jakub Fajnsztajn waren. Ihre Ersatzmutter Stanislawa Butkiewicz war das Kindermädchen der heute 75-jährigen, die im litauischen Vilnius geboren wurde. Als dort das Ghetto eingerichtet wurde, war den Eltern schnell klar, dass ein Kleinkind unter den katastrophalen Lebensbedingungen des Ghettos kaum überleben könnte. Chana Fajnsztajn schaffte es, die kleine Mascha aus dem Ghetto zu schmuggeln und dem einstigen Kindermädchen zu übergeben. Wie Maria Kowalska später erfuhr, hatte ihre Mutter der Amme noch einen letzten Auftrag mit auf den Weg gegeben: "Wenn ich überlebe, gib sie uns zurück. Wenn nicht, taufe sie und erziehe sie als deine Tochter."
Tränenreiches Wiedersehen nach 65 Jahren
Butkiewicz versuchte immer wieder, der kleinen Maria von der Zeit zu erzählen, als sie Mascha hieß, von der Familie Fajnsztajn. Doch das war zu schmerzhaft, sagt Kowalksa. "Ich wollte so sehr eine Familie haben und beneidete meine Freundinnen, die Onkel, Tanten und Großeltern hatten. Wir waren immer nur zu zweit." Vor Jahren entschloss sie sich zu einem Aufruf im Internet, um vielleicht doch noch Menschen zu finden, die ihre Eltern gekannt hatten und mehr über ihre übrige Verwandtschaft erzählen konnten.
Ausgerechnet vor einer Reise nach Israel erhielt sie 2006 einen Anruf: Eine Tante und ein Onkel hatten das Ghetto überlebt, lebten in Haifa. Noch während des Besuchs in Israel kam es zu einem emotionalen, tränenreichen Wiedersehen mit dem Onkel, der sie zuletzt als Zweijährige im Ghetto gesehen hatte. Wenige Tage später gab es eine große Familienfeier in Tel Aviv - mit Nichten und Neffen, Kindern und Enkeln. "Ich hatte unglaubliches Glück", sagt Maria Kowalska nachdenklich. "Nach 65 Jahren fand ich meine Verwandten. Jetzt habe ich eine große Familie."