Leben im äthiopischen Flüchtlingscamp

Sehnsucht nach Zukunft

Veröffentlicht am 10.01.2016 um 00:01 Uhr – Von Beatrix Gramlich – Lesedauer: 
Hilfswerke

Aachen ‐ Hunderttausende Eritreer setzen ihr Leben aufs Spiel, um dem Terror in ihrer Heimat zu entkommen. Doch selbst wenn sie es über die Grenze schaffen, hängen sie im Auffanglager fest. Zehntausende sind dort zu einem untätigen Leben im Staub verdammt.

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Okbakrstos Haileslasie wähnte sich schon in Sicherheit, als den jungen Computerfachmann der Terror wie ein Bumerang einholte. "Ich hatte die Grenze gerade überquert, als ich gefasst wurde. Sie haben auf mich geschossen", berichtet der junge Mann regungslos. Eritreische Soldaten – seine Landsleute - nahmen ihn fest. Er kam drei Monate in ein unterirdisches Gefängnis in Isolationshaft. "In meiner Zelle gab es nichts außer den nackten Wänden. Ich wurde gefoltert. Ich kann nicht in Worte fassen, was passiert ist. Aber Gott hat mich gehalten."

Dann wird Haileslasie in eine andere Haftanstalt verlegt. Die Zelle dort teilt er mit 300 Gefangenen. Es gibt kein Bad, kein Bett, zweimal am Tag eine Scheibe Brot und eine wässrige Suppe. Die Männer haben ständig Hunger. Zwei Jahre sitzt der Computerfachmann ein. Als er endlich entlassen wird, verbietet ein Armeegeneral, dass er an seine alte Arbeitsstelle zurückkehrt. Stattdessen wird Haileslasie zum Militärdienst eingezogen und muss dort niedere Dienste verrichten. Seine Einheit ist in der Nähe der äthiopischen Grenze stationiert.

Themenseite: Auf der Flucht

Ob Naturkatastrophen, Armut oder Terror: Täglich verlassen Menschen ihre Heimat, um anderswo ein neues, ein besseres Leben zu beginnen. Die Flüchtlinge kommen auch nach Deutschland. Das bedeutet eine große Herausforderung für Politik, Gesellschaft und Kirche.

Das ist seine Chance. Haileslasie wagt erneut die Flucht und hat Glück. Jetzt lebt er in Mai-Aini, einem von vier Flüchtlingslagern im Norden Äthiopiens. Das Land gehört zu den ärmsten der Welt, und gleichzeitig zu denen, die weltweit am meisten Flüchtlinge aufnehmen. Bis zum Horizont ducken sich die Hütten von Mai-Aini in den Wüstensand – windschiefe, armselige Bauten, zusammengeschustert aus dem, was ihre Bewohner finden konnten: Steine, Lehm, Wellblechteile, zerfranste Plastikplanen.

In Eritrea herrscht die Willkür des Terrors

Täglich wachsen die Reihen entlang der schmalen Gassen, die schachbrettartig das riesige Lager durchziehen. Denn täglich treffen neue Flüchtlinge aus Eritrea ein. Sie fliehen wie Haileslasie vor den Folterknechten eines Willkürregimes, das die Menschenrechte mit Füßen tritt, religiöse Minderheiten verfolgt und Männer zu unbegrenztem Militärdienst zwingt. Eritrea gilt als das Nordkorea Afrikas, seine Wirtschaft liegt am Boden. Mehr als 300 000 der fünf Millionen Einwohner haben das kleine Land am Roten Meer bereits verlassen. Sie riskieren ihr Leben – für Freiheit und die vage Aussicht auf eine bescheidene Existenz in der Fremde.

Video: © missiodeutschland/youtube

Pfarrer Ghidey Alema steht den Flüchtlingen in Äthiopien bei.

Auch Haileslasie hielt es in seinem Heimatland nicht mehr aus. Nun gehört er zu den Laien, die die katholische Gemeinde in Mai-Aini leiten. Sie organisieren Kinderkatechese, Bibelstunden, das Rosenkranzgebet, zu dem sie sich morgens und abends versammeln. Jetzt ist es später Nachmittag, die Sonne steht schon tief und brennt nicht mehr so unbarmherzig. Vor der Wellblechkirche hocken Jungen und Mädchen auf pastellfarbenen Plastikbänken. "Wir sind eins im Geist, eins in Gott. Die Menschen erkennen uns an unserer Liebe", tönt es inbrünstig aus einem Dutzend kleiner Kehlen. Die Kinder sind voll in ihrem Element, als ein unerwarteter Gast auftaucht.

Mit Pfarrer Ghidey Alema hat heute niemand gerechnet. Eigentlich arbeitet der 60-Jährige als Gemeindepriester in Shire. Seit eineinhalb Jahren kümmert er sich zusätzlich um die Menschen in den Flüchtlingslagern. Eine zeitraubende Zusatzaufgabe. Denn der einzige Weg nach Mai-Aini führt über eine schwer zugängliche Passstraße. Für eine Strecke braucht Pfarrer Ghidey zwei Stunden. Er schafft es nur alle zwei Wochen, hierher zu kommen.

Hintergrund: Afrikatag

Äthiopien ist das missio-Beispielland für den Afrikatag 2016, den die katholische Kirche in Deutschland im Januar begeht. Die Kollekte dazu ist die älteste gesamtkirchliche der Welt. Papst Leo XIII. rief sie 1891 ins Leben, um die Sklaverei auf dem Schwarzen Kontinent zu bekämpfen. Heute fließen die Spenden in die Ausbildung von Priestern und Ordensleuten in Afrika. Mehr Informationen zur Lage in Eritrea finden Sie im Internet.

Alema, ein vierschrötiger Schrank von Mann, leichter Bauchansatz, behäbige Bewegungen, entspricht nicht gerade dem Bild eines einfühlsamen Seelsorgers. Aber die Flüchtlinge sind glücklich, wenn er kommt. Sie nennen ihn liebevoll "Abba", Vater. Alema versteht sie. Er spricht ihre Sprache, Tigrinisch, das die Menschen auf beiden Seiten der Grenze verbindet. Der 30 Jahre dauernde Bruderkrieg zwischen Äthiopien und Eritrea, infolgedessen Eritrea 1993 die Unabhängigkeit erlangte, führte zur Teilung der Region Tigray. Wie in Nordkorea durchschneidet die Grenze ein Volk, trennt Familien und Verwandte.

Eintönigkeit klebt an den Tagen

Abba Ghidey gesellt sich zu den Kindern, hört ihnen ein paar Takte lang zu, dann beginnt er – zunächst etwas unbeholfen, dann immer beherzter – in die Hände zu klatschen und singt kräftig mit. Ein Junge legt eine bemalte Trommel der Länge nach auf den Boden, fast verschwindet der schmächtige Kerl dahinter. Aber im nächsten Moment fliegen seine Hände über das Fell. Der Kleine macht mit solcher Leidenschaft und einem so unglaublichen Rhythmusgefühl Musik, dass er seine Kameraden samt Pfarrer und Katechisten mitreißt. Eine Spanne Zeit entfliehen sie der bedrückenden Wirklichkeit; vergessen die Hitze, den Staub, die Eintönigkeit, die jedem Tag anhaftet wie zäher, klebriger Schleim. Viele Flüchtlinge leben jahrelang in Mai-Aini, ohne Perspektive und abhängig von den Lebensmittelrationen der Vereinten Nationen.

Okbakrstos Haileslasie im Porträt
Bild: ©Hartmut Schwarzbach/missio

Okbakrstos Haileslasie gehört zu den Laien, die die katholische Gemeinde in Mai-Aini leiten.

Jeder hier hat seine Geschichte. Okbakrstos Haileslasie, der noch immer unter den Folgen von Haft rund Folter leidet. Nebiat Ammanuel, eine bildschöne junge Frau, die alleine sechs Kinder durchbringt. Ihr Mann war Soldat – fast noch ein Kind, als sie ihn mit 15 Jahren einzogen. Kurz vor seinem 30. Geburtstag lag seine Entlassung noch immer in weiter Ferne. "Er ist geflohen, um dem Militärdienst zu entkommen", sagt Nebiat Ammanuel leise. Als die Sicherheitskräfte davon erfuhren, drohten sie seiner schwangeren Frau mit Sippenhaft. Kaum war das Kind auf der Welt, folgte die 24-Jährige ihrem Mann auf dem langen Weg durch die Berge – zu Fuß, einen vier Wochen alten Säugling auf dem Rücken. In Mai-Aini wurde ihr zweiter Sohn geboren. Doch Familie hat der Kleine kaum erlebt. Sein Vater wurde im Flüchtlingslager von einem Blitzschlag getötet.

„Wenn ich zur Kirche gehe, wenn ich bete, gibt mir das Vertrauen, dass Gott für uns sorgt.“

—  Zitat: Nebiat Ammanuel, 24 Jahre alt, Witwe, Mutter von sechs Kindern

Während Nebiat Ammanuel erzählt, schweift ihr Blick zu den drei Gräbern auf dem sandigen Kirchhof. Im mittleren liegt ihr Mann. Die junge Frau kämpft mit den Tränen. Es ist einfach zu viel: die Verantwortung, die ständige Sorge um Essen, Kleidung, die quälende Frage, wie lange sie es hier noch aushalten müssen.  Doch wider alle Vernunft vertraut sie darauf, dass es weitergeht. "Wenn ich zur Kirche gehe, wenn ich bete, gibt mir das Vertrauen, dass Gott für uns sorgt."

Ihr Glaube hilft den Menschen auszuhalten, was schwer zu ertragen ist: die Langeweile im Lager, das sie nicht verlassen dürfen. Die Ungewissheit, ob sie irgendwann in Kanada, den USA oder Europa Asyl bekommen. Die Angst um die Jungen, die sich auf den gefährlichen Weg über den Sudan, die Libysche Wüste und das Mittelmeer machen.

Zuhören, Mut machen - Zeit haben

Abba Ghidey ist einer, der sie versteht. Er stammt aus einem Dorf im Norden Äthiopiens. Während des Grenzkriegs wurde seine Pfarrei von eritreischen Soldaten überfallen, auch er hat gelitten und Unfassbares erlebt. So jemand weiß, dass einen diese Erlebnisse nicht mehr loslassen. Er weiß, wie wichtig es für die Flüchtlinge ist, dass jemand Zeit für sie hat, ihnen zuhört, Mut macht. Zwar bieten internationale Hilfsorganisationen in Mai-Aini – unter ihnen die langjährigen missio-Projektpartner vom Flüchtlingsdienst der Jesuiten – psychotherapeutische Beratung und Beschäftigungsprogramme an. Aber es sind zu viele, die Hilfe brauchen, und zu wenige Angebote.

Ein Pfarrer spricht mit mehreren Frauen
Bild: ©Hartmut Schwarzbach/missio

Abba Ghidey im Flüchtlingslader Mai-Aini.

Die Wellblechkirche, die die Gläubigen liebevoll mit Stoffmatten, Teppichen und Plastikblumen ausgeschmückt haben, steht allen offen. 1600 Mitglieder zählt die kleine katholische Gemeinde im Lager.  Wenn Abba Ghidey hier in der alten Kirchensprache Ge’ez Gottesdienst feiert, sind die Reihen dicht besetzt. Im Bistum Adigrat folgt die Messe dem uralten alexandrinischen Ritus und dauert Stunden. Nicht enden wollende Litaneien, Fürbitten und Gebete wechseln ab mit orientalischen Melodien, die wie Wehklagen durch den Raum schweben. Die Gläubigen sind in tiefe Andacht versunken. Nach der Messe wollen fast alle mit Abba Ghidey sprechen, seinen Rat einholen, ihre Geschichte erzählen – auch das eine Art, ihre traumatischen Erlebnisse in der Heimat und auf der Flucht zu bewältigen.

Jeder leidet auf seine Art. Die Jungen, weil sie nach Leben und Freiheit hungern und im Camp zum Nichtstun verdammt sind. Die Alten, weil sie befürchten, dass ihre Kinder trotz aller Warnungen fliehen. Sie erzählen von Söhnen und Töchtern, die sich aufgemacht haben und jetzt irgendwo zwischen Äthiopien, dem Sudan und Libyen unterwegs sind oder – und das ist ihre größte Angst – in seeuntauglichen Booten auf dem Mittelmeer treiben.

Rufael Grimay hat es im Lager nicht mehr ausgehalten und auf eigene Faust versucht, nach Europa zu kommen. Im Sudan wurde er von Beduinenbanden gekidnappt, die mit der Entführung von Flüchtlingen brutale Geschäfte machen. Grimay haben sie einen Monat auf dem Sinai festgehalten. Er wurde geschlagen, sie haben seine Haut mit glühenden Eisen verbrannt, ihn gezwungen, barfuß durchs Feuer zu laufen. Sein Rücken und seine Füße sind mit Narben übersät. Seine Familie hat schließlich das geforderte Lösegeld gezahlt – selbst entfernte Angehörige gaben, soviel sie konnten. Jetzt ist er zurück in Mai-Aini. Einer von vielen, die Hilfe brauchen. Und Halt.

Der Text ist im Original im Magazin "Kontinente" erschienen, das vom Hilfswerk "Missio" herausgegeben wird.

Von Beatrix Gramlich