In Turin setzt Franziskus ein historisches Zeichen der Ökumene und spricht aktuelle Themen an

"Vergebt uns!"

Veröffentlicht am 22.06.2015 um 12:30 Uhr – Lesedauer: 
Papstreise

Bonn ‐ In Turin setzte Franziskus ein Zeichen der Ökumene und entschuldigte sich bei der Kirche der Waldenser für Verfolgungen. Bereits am Vorabend hatte er sich zu einer Reihe kirchenpolitischer Themen geäußert - von einer Frauenquote im Vatikan bis zu Keuschheit vor der Ehe.

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Am Montagvormittag bat Franziskus die evangelische Kirche der Waldenser für historische Verfolgungen um Verzeihung. Die katholische Kirche habe "unchristliche Haltungen und Verhaltensweisen" gezeigt, sagte er beim Besuch der Waldenserkirche in Turin. "Im Namen des Herrn Jesus Christus, vergebt uns!" Es war der erste Besuch eines Papstes in einem waldensischen Gotteshaus.

Von der katholischen Kirche als Häretiker verfolgt

Die Beziehungen zwischen Katholiken und Waldensern sind nach seinen Worten in den vergangenen Jahren immer enger geworden. Zwar gebe es weiter wichtige Unterschiede in anthropologischen und ethischen Fragen, dies dürfe aber nicht die Zusammenarbeit verhindern. Beide Konfessionen müssten sich gemeinsam engagieren, wenn es um die Sorge für Arme und Ausgegrenzte gehe. Als Beispiele für die gelingende Kooperation nannte Franziskus eine interkonfessionelle Bibelübersetzung ins Italienische und einen gemeinsamen Appell gegen die Gewalt gegen Frauen.

Die im 12. Jahrhundert vom Lyoner Kaufmann Petrus Valdes (1140-1206) gegründete Glaubensgemeinschaft wurde über Jahrhunderte unterdrückt und ihre Mitglieder von der katholischen Kirche als Häretiker verfolgt. Nach eigenen Angaben zählt sie heute weltweit rund 100.000 Mitglieder, viele davon in Italien.

Bild: ©picture alliance/dpa/Alessandro Di Marco

Papast Franziskus besucht am 21. Juni 2015 das Turiner Grabtuch.

Privates Treffen mit Familienmitgliedern

Nach dem Besuch der Waldenserkirche traf der Papst rund 30 italienische Verwandte. Er feierte er eine Messe und aß dann mit ihnen zu Mittag, wie das Nachrichtenportal news.va berichtet. Das mehrstündige Treffen war strikt privat. Die Familie des argentinischen Papstes stammt ursprünglich aus dem Dorf Cortiglione di Robello knapp 50 Kilometer von Turin.

Am Sonntagabend hatte der Papst spontan auch die Kirche Santa Teresa besucht, in der 1907 seine Großeltern geheiratet hatten und in der im Jahr darauf sein Vater Mario getauft wurde. Die Familie wanderte 1929 nach Argentinien aus.

Der Sonntag hatte insgesamt im Zeichen einer päpstlichen Visite am berühmten Turiner Grabtuch gestanden, das im Dom ausgestellt ist. Minutenlang saß Franziskus in sich gesunken und mit geschlossenen Augen im Halbdunkel vor dem Grabtuch.

Kritik an Deutschland

Termine am späten Nachmittag und Abend nutzte Franziskus, um sich gleich zu mehreren politischen wie kirchlichen Themen zu äußern. Bei einem Treffen mit Zehntausenden Jugendlichen ging er unter anderem auf Verbrechen der beiden Weltkriege ein. Der Papst kritisierte, dass kriegführende Mächte im Ersten Weltkrieg aus militärischen Gründen nichts gegen die Ermordung von einer Million Armenier unternommen hätten. Damit wandte er sich indirekt an Deutschland. Das Deutsche Reich hatte zu den 1915 in der verbündeten Türkei beginnenden Armeniermorden geschwiegen, obwohl die Verbrechen offensichtlich waren und laufend nach Berlin gemeldet wurden.

Bild: ©KNA

Das Grabtuch von Turin: Erst die ersten fotografien zeigten vor genau 100 Jahren den schwachen Doppelabdruck eines bärtigen Mannes mit allen Symptomen der biblischen Kreuzigungsgeschichte.

In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg kritisierte Franziskus das Verhalten der Alliierten während des Holocausts. Trotz Luftaufnahmen der Vernichtungslager seien die Gleise, auf denen die Todeszüge fuhren, nicht unterbrochen worden. Ebenso habe sich niemand an den Verbrechen in Stalins Lagern gestört, wo sehr viele Christen getötet worden seien. Die Alliierten erhielten über Spione und jüdische Informanten früh Hinweise über den anlaufenden Holocaust. 1944 entstanden Luftaufnahmen vom Vernichtungslager Auschwitz. Seit langem gibt es eine Diskussion darüber, warum Briten und Amerikaner die Bahnlinien in die Lager nicht bombardierten.

Die Jugendlichen rief der Papst zu vorehelicher sexueller Enthaltsamkeit auf. Das Wort "keusch" sei nicht mehr populär und werde nicht gern gehört, "aber auch ein Papst muss mal die Wahrheit aussprechen", erklärte das Kirchenoberhaupt. Wahre Liebe dürfe nicht mit romantischen Gefühlen verwechselt werden.

Franziskus: Keine Frauenquote im Vatikan

Beim Zusammentreffen mit weiblichen Mitgliedern des Salesianerordens erteilte er zudem der Forderung nach einer Frauenquote im Vatikan eine Absage.  Für ihn habe die Frage nach weiblichen Leitern vatikanischer Ministerien keine Dringlichkeit. "Wenn man mir sagt: Warum keine Frauen an der Spitze einer Kurienbehörde?, dann antworte ich: Das ist Funktionärsdenken", so der Papst. Frauen spielten für das Leben der Kirche jedoch eine immens wichtige Rolle. Sie erfüllten sozusagen die Aufgabe, die Maria für die Jünger gehabt habe. "Die Apostel sind ohne Maria nicht vorstellbar, Jesus hat es so gewollt".

Gleichzeitig würdigte der Papst die Arbeit der Salesianer. Ihr Einsatz für die Jugendseelsorge und Bildungsarbeit sei heute wichtiger denn je. Franziskus hob besonders den praxisorientierten Ansatz der Salesianer hervor. "Salesianer sind konkret", sagte er. Sie gingen an die Ränder der Gesellschaft, würden Probleme erkennen und gingen sie an. So bewahrten sie viele Jugendliche vor dem Absturz in Drogen und Kriminalität. Franziskus betete auch am Grab des Ordensgründers der Salesianer. Der heilige Don Bosco (1815-1888) hatte in Turin gelebt und dort arbeitslose und sozial entwurzelte Jugendliche von der Straße geholt.

Beim Besuch einer Pflegeeinrichtung für Patienten, Alte und Behinderte kritisierte Franziskus eine fehlende Achtung vor Alten und Kranken in der Konsumgesellschaft. Krankheit und Pflegebedürftigkeit würden angesichts eines ökonomischen Nutzendenkens oft nur noch als Belastung gesehen. "Diese Mentalität schadet der Gesellschaft und es ist unsere Pflicht, 'Antikörper' gegen diese Sicht auf Alte oder Behinderte zu entwickeln, als ob ihre Leben nicht mehr Wert wären, gelebt zu werden", so der Papst. (gho/KNA)

22.06.2015, 16.00 Uhr: Informationen zu Treffen mit Familienmitglieder ergänzt

Im Schatten des Grabtuchs

Das Schlüsselmotiv bot diese Papstreise gleich zu Beginn: Minutenlang saß Franziskus in sich gesunken vor dem Turiner Grabtuch. Wofür mag er gebetet haben? Zuvor hatte der Papst erneut den Blick auf die Not der Migranten gelenkt - und dann auch noch unerwartete Heimatgefühle gezeigt.