Von Kompromisskandidaten und Pflichterfüllern
Frage: Herr Reinhardt, im Vorwort Ihres neuen Buchs beschreiben Sie die Geschichte der Päpste als die Geschichte des Kampfs "um die Macht in ihrer höchsten und reinsten Potenz". Ist das nicht eine Übertreibung?
Reinhardt: Nein, sicher nicht. Für gläubige Katholiken, denen ich nicht im Geringsten zu Nahe treten möchte, gibt es natürlich zwei Dimensionen: Das Papsttum steht einerseits im Strom der Geschichte mit all ihren Erschütterungen und andererseits oberhalb der Geschichte, weil es eine Mission bis zum Ende der Zeiten zu erfüllen hat. Das ist eine Sicht der Dinge, die ich vollkommen respektiere. In meinem Buch geht es aber in erster Linie um die rein historische Dimension. Die Päpste bilden eine Institution und diese wiederum hat Machtansprüche. Es ist faszinierend, wie sich diese Institution durch die Höhen und Tiefen der Geschichte hindurch entwickelt.
Frage: Welche Hoch- und Tiefpunkte gab es da?
Reinhardt: Es hat Zeiten gegeben, die schon der große Kirchenhistoriker Cesare Baronio (1538-1607) als dunkle Jahrhunderte bezeichnet hat. Vor allem im 10. Jahrhundert ist das Papsttum eine Art Spielball römischer Adelsfamilien. Da werden nach heutigem Verständnis minderjährige Knaben zu Päpsten gewählt und anschließend ausgetauscht oder sogar ermordet. Und trotzdem halten diese Päpste, die äußerst ungeistlich sind, auch in dieser Zeit an den Grundlagen des Amtes fest, was später einen Wiederaufstieg und einen grundlegenden Gestaltwandel erlaubt.
Frage: Wo stoßen Sie als Wissenschaftler bei der Erklärung solcher Vorgänge an Grenzen?
Reinhardt: Wenn Verhaltensweisen aufscheinen, die erst einmal völlig widersprüchlich sind, wie bei Alexander VI. (1492-1503) mit seiner persönlichen Frömmigkeit und dem Terror der Familie Borgia. Oder bei der berüchtigten Leichensynode von 897. Da lässt ein Papst einen seiner Vorgänger, der bereits seit einiger Zeit im Grabe ruht, ausgraben, macht ihm den Prozess und hackt ihm die Schwurhand ab – da sind offenbar magische Vorstellungen am Werk.
Frage: Bleiben wir bei Alexander VI.: Bei der Beschreibung dieser illustren Gestalt bemerken Sie, dass sich schon Zeitgenossen gefragt haben, wie ein so offenkundig frommer Mann so unchristlich handeln konnte. Wie gelingt dem Wissenschaftler die Einschätzung einer solchen Person?
Reinhardt: Die Annäherung ist zunächst einmal eine bewusste Annäherung an Fremdheit, andere Bewusstseinswelten, Mentalitäten und Wertmaßstäbe. Wir müssen dabei fast alles zurücklassen, was wir heute mit dem Papsttum und seinen Normen, Werten und Regeln verbinden. Die waren damals anders. Wir müssen Alexander VI. im Geiste seiner Epoche verstehen. Dann bieten sich erklärende Motive. Schon sein Onkel war Papst, Kallixtus III. (1455-1458). Er wurde im hohen Alter von 77 Jahren gewählt und war ein eher unauffälliger Pontifex, der allerdings seine Familie sehr intensiv gefördert hat. Wir wissen von ihm, dass er sich ganz direkt von der Vorsehung erwählt glaubte. Dieses Bewusstsein ist offenbar in der ganzen Familie Borgia vorhanden: Wer gegen uns ist, ist gegen die Kirche und ihren Auftrag. Das rechtfertigt dann natürlich auch Gewalt und Terror. Das ist die einzige Erklärung, die ich sehen kann – im Wissen, dass Alexander VI. durchaus auf seine Weise fromm war.
Frage: Ein modernes Beispiel für einen Papst, dessen Amtszeit sich nicht einfach durch historische Fakten erklären lässt, ist Pius XII. (1939-1958). Sie schreiben, dass die Bewertung seines Pontifikats letztlich davon abhängt, ob man denkt, er habe deutlicher gegen den Nationalsozialismus eintreten sollen oder nicht. Aber eine solche Bewertung machen Sie nicht. Warum?
Reinhardt: Weil ich der Überzeugung bin, dass das letzte Wort da noch nicht gesprochen ist. In der laufenden Forschung tobt ein intensiver Kampf der Meinungen, in dem sich vor allem ideologische Standpunkte abzeichnen. Für eine nüchterne Bestandsaufnahme, wie sie mir vorschwebt, ist einfach etwas mehr zeitlicher Abstand vonnöten. Und ganz ohne Beurteilung lasse ich diesen Pontifikat ja nun nicht. Denn er Kontrast zwischen seiner Zurückhaltung bei der Verurteilung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen vor 1945 und der Art und Weise, wie sich Pius XII. nach dem Zweiten Weltkrieg als Retter Roms feiern ließ, ist für mich offenkundig.
Frage: Inwieweit haben Sie die laufenden Forschungen zu diesem Pontifikat in Ihre Arbeit einfließen lassen?
Reinhardt: Meine Geschichte der Päpste ist insgesamt der Versuch einer Synthese auf dem Stand der Forschung. Aber da ist kein wirklicher Konsens in Sicht. Es gibt Fakten, die feststehen, aber die Schlüsse, die aus diesen Fakten gezogen werden, fallen immer noch sehr unterschiedlich aus. Ich habe das insgesamt als eine Aufforderung zu einer nicht urteilslosen, aber einer auf moralische Urteile verzichtenden Zurückhaltung aufgefasst.
Frage: Sie kommen an mehreren Stellen darauf zu sprechen, dass es Parallelen der Geschichte über Jahrhunderte hinweg bis in die Moderne hinein gibt. Können Sie Beispiele nennen?
Reinhardt: Da wäre etwa das Auftreten der Päpste, wie sie sich der Öffentlichkeit zeigen. Sie müssen in vielerlei Hinsicht kommunizieren und sich dazu eine Rolle wählen. Und diese Rollen sind über Jahrhunderte hinweg vorgeprägt. Es gibt den extrem distanzierten, gelehrten Papst und es gibt den asketisch-heiligmäßig lebenden Papst; der oft gar nicht so beliebt war, weil man ihn für einen schlechten weltlichen Herrscher hielt. Es gibt Päpste, die mit dem Mann auf der Straße kommunizieren, wie Johannes XXIII., und es gibt Päpste, die sich bewusst vom eigenen Apparat und den eigenen Bürokraten abzuheben versuchen. Ich will damit nicht sagen, dass das nur Inszenierung ist. Im Gegenteil: Jeder Papst wählt seine Rolle nach seinem Charakter und seinen Neigungen aus.
Frage: Es gibt durch die Geschichte hindurch eine Reihe von Päpsten, die größere Bekanntheit erlangt haben. Daneben gibt es aber auch dutzende, hunderte andere, die kaum bekannt sind. Sind Sie in der Recherche auch Päpsten begegnet, von denen Sie nichts wussten?
Reinhardt: Ja, natürlich. Lassen Sie mich das erklären: Ein Konklave ist meist ein sehr stressiger Wahlakt mit konkurrierenden Parteien. Römische Adelsfamilien etwa, oder Kardinäle, die europäischen Großmächten verpflichtet sind. Und gerade weil diese Parteien so stark sind, bildet sich häufig ein Patt. Dann muss ein Kompromiss gefunden werden. Die allermeisten Päpste sind wahrscheinlich solche Kompromisskandidaten; also Kirchenfürsten, die bei niemandem wirklich verhasst waren, die für mehrere Seiten wählbar waren. Sie waren keine ausgeprägten Parteigänger und häufig eben auch nicht sehr profiliert. Gerade in der Zeit zwischen 1400 und 1800 ist das ganz sicher das dominierende Motiv: Päpste werden gewählt, weil sie niemandem "wehtun". Und häufig übrigens auch, weil sie älter sind. Denn auch andere Kardinäle wollen noch zum Zuge kommen. "Dieser Kandidat ist zu jung, der geht nicht", ist ein sehr häufiges Argument im Konklave. Diese Päpste, die nicht durch herausragende Eigenschaften aufgefallen sind, waren wahrscheinlich aber auch für das Amt notwendig. Durch ihren Profilierungsverzicht waren sie in der Lage, die Kontinuität des Amtes zu wahren. Für die Durchsetzungsfähigkeit des Papsttums ist die vorherrschende Durchschnittlichkeit vieler Päpste wahrscheinlich sogar eher ein Vorteil gewesen.
„Die Öffentlichkeit interessiert sich eben mehr für 'Sex and Crime' als für solide bürokratische Pflichterfüller.“
Frage: Wär es für unser Bild vom Papsttum besser, mehr über diese Kompromisskandidaten als über Alexander VI. zu sprechen?
Reinhardt: Auf jeden Fall, ja! Die Öffentlichkeit interessiert sich eben mehr für "Sex and Crime" als für solide bürokratische Pflichterfüller. Wobei auch die durchaus interessante Aspekte haben, wie Paul V. (1605-1621), mit dem ich mich seit über 40 Jahren beschäftige: Wie fast alle Päpste der Neuzeit ist er Jurist und beachtet den Buchstaben des Gesetzes. Trotzdem verschafft er seinem Neffen jährliche Einkünfte und Vermögenswerte in astronomischen Höhen, die weit über den Budgets von Kongregationen liegen. Nach heutigen Begriffen sind mehrere Milliarden Euro an diesen Nepoten geflossen. Alexander VI. hingegen ist ein extremer Sonderfall. Er ist interessant, weil er zeigt, wie Normen aufgelöst werden können; auch in einem Amt, das so sehr durch Traditionen und Kontinuität bestimmt ist.
Frage: Also doch ein Einzelfall der Geschichte?
Reinhardt: In dieser Massivität, dieser Brutalität schon. Im 10. Jahrhundert gibt es zwar einen Papst, der zwei seiner Vorgänger umgebracht hat. Aber das Papsttum war damals noch etwas völlig anderes. Und Alexander VI. wird schon zu seiner Zeit von vielen Kardinälen als eine katastrophale Fehlwahl und sein Pontifikat als eine Fehlentwicklung angesehen. Da hängen Input und Output allerdings zusammen: Solange überwiegend jüngere, salopp gesagt, Yuppie-Kardinäle ernannt werden, die überwiegend nach ihrer Zahlungsfähigkeit ausgesucht wurden, solange bekommt man auch keinen Reformpapst mit spirituellen Neigungen. Man muss also erst das Kardinalskollegium langfristig erneuern, bevor eine Erneuerung des Papsttums möglich wird. Insofern ist Alexander VI. ein Extremfall, der sich angekündigt hat. Schon im Pontifikat Sixtus IV. (1471-1484), der vor seiner Wahl Franziskanergeneral war, sind Tendenzen zur extremen Ausbreitung des Nepotismus vorhanden. Er führt Kriege in Italien, um seinen Blutsverwandten eigene Staaten zu erobern. Da mussten die Borgia nur noch anknüpfen. Dann sind sie allerdings sehr viel weiter gegangen – so weit wie kein Papst danach.
Frage: Haben Sie auch ein Beispiel für einen Wohlfühlpapst? So ganz ohne Nepotismus und andere Skandale?
Reinhardt: Das wäre Benedikt XIV. Und ich glaube, dass auch dieser Benedikt eine Rolle für die Wahl des Papstnamens von Joseph Ratzinger gespielt haben könnte. Benedikt XIV. ist ein Papst zum Anfassen. Er war schon vor seiner Wahl als sehr markante Persönlichkeit bekannt. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und passt sich dem Korrektheitsjargon der damaligen Kurie nicht an. Bis zu einem gewissen Grade interessiert er sich sogar für die neue Kultur der Aufklärung, der das Papsttum in dieser Zeit insgesamt feindlich und ablehnend gegenübersteht. Er ist in eigener Sache uneitel, kann Kritik vertragen und er sieht sich als Sachwalter der kleinen Leute. In seinen 18 Jahren von 1740 bis 1758 war er sicherlich so ein Papst, mit dem man vielleicht kein Bier, aber doch einen Kaffee trinken konnte.