Von Rochus und Goethe
Folgt man dem Rochus gewidmeten nüchternen Eintrag im "Lexikon für Theologie und Kirche", handelt es sich bei ihm um einen "historisch nicht nachweisbaren Pilger aus Montpellier, wohl um die Mitte des 14. Jahrhunderts". Der Legende nach soll er seinen ererbten Reichtum an die Armen verteilt, sich auf eine Pilgerreise nach Rom begeben und auf dieser Reise vielen Pestkranken geholfen haben. Er erkrankte selbst, kam wieder etwas zu Kräften, kehrte zurück nach Montpellier, wurde dort nicht als ein Sohn der Stadt erkannt, vielmehr - weil Kriegszeit war - für einen Spion des Feindes gehalten und in den Kerker geworfen. Nach fünf Jahren Haft starb er.
Nach seinem Tod wurde er "auch noch an dem roten Kreuz, so er auf der Brust mit auf die Welt gebracht hatte, erkannt, und war ein großes Heulen und Lamentieren darüber entstanden", so Johann Wolfgang von Goethe in seiner Wiedergabe der Legende. Was Goethe da wiedergibt, findet sich in seiner Schilderung "Sankt-Rochus-Fest zu Bingen", bei dem er am 16. August 1814 zugegen war und an dem er Gefallen fand.
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Weitere Informationen zur Rochuswallfahrt finden Sie auf der Internetseite der katholischen Kirche Bingen-Stadt.An jenem 16. August wurde in Bingen erstmals nach den Freiheitskriegen wieder das Rochusfest gefeiert. Und Goethe wunderte sich: Wie bloß waren "alle diese Zierden, schon verjährt und doch wohlerhalten, unbeschädigt und doch nicht neu" in die gerade wiederaufgebaute, zuvor von Napoleons Truppen als Beobachtungsposten missbrauchte und dann 1795 im Krieg völlig zerstörte Rochuskapelle auf dem Binger Rochusberg gekommen?
Die Antwort hat mit dem 1165 von der heiligen Hildegard von Bingen gleich gegenüber auf der rechten Rheinseite gegründeten Kloster Eibingen zu tun. Ihm machte die Säkularisation ein Ende, es wurde 1814 auf Beschluss der nassauischen Regierung geräumt. So passierte, was Goethe beim Rochusfest erfuhr und was ihm die Frage nach "allen diesen Zierden" beantwortete. Dass nämlich "nach aufgehobenem Kloster Eibingen, die inneren Kirchenerfordernisse, Altäre, Kanzel, Orgel, Bet- und Beichtstühle, an die Gemeine zu Bingen zu völliger Einrichtung der Rochuskapelle um ein billiges überlassen worden".
Da man sich nun von nassauischer und mithin protestantischer Seite derart förderlich erwiesen habe, hätten sämtliche Bürger Bingens gelobt, so notierte Goethe, "gedachte Stücke persönlich herüberzuschaffen". Sie seien nach Eibingen gezogen, "alles ward sorgfältig abgenommen, der einzelne bemächtigte sich kleinerer, mehrere der größeren Teile, und so trugen sie, Ameisen gleich, Säulen und Gesimse, Bilder und Verzierungen herab an das Wasser; dort wurden sie, gleichfalls dem Gelübde gemäß, von Schiffern eingenommen, übergesetzt, am linken Ufer ausgeschifft und abermals auf frommen Schultern die mannigfaltigen Pfade hinaufgetragen".
Da nun "das alles zugleich geschah", so habe man, von der Rochuskapelle herabschauend über Land und Fluß, den "wunderbarsten Zug" sehen können, in dem "Geschnitztes und Gemaltes, Vergoldetes und Lackiertes in bunter Folgereihe sich bewegte". Doch die Wiederherstellung der Rochuskapelle war nicht für die Ewigkeit bestimmt. 1889 schlägt der Blitz ein. Das Feuer vernichtet nahezu alles. Auf dem Fundament des vormals barocken Gotteshauses wird eine Kirche im spätgotischen Stil errichtet, die 1895 geweiht wird. Bis auf den heutigen Tag ist sie Ziel zahlreicher Wallfahrer.