Wann Katholiken ihre Kirche noch brauchen
Frage: Die groß angelegte Studie des Bistums Essen beschäftigt sich mit Kirchenaustritten und deren Motiven. Sie haben sich in Ihrer Meta-Studie mit dem Kirchenmitgliedschaftsverhältnis von deutschen Katholiken beschäftigt. Wo sehen die Menschen die Kirche besonders positiv?
Björn Szymanowski: Da gibt es zwei Punkte. Der eine ist das das sozial-caritative Engagement der Kirche, der andere Kasualien, also kirchliche Rituale an bestimmten Lebenspunkten. Diese zwei Handlungsfelder werden ganz stark bei der Kirche angefragt. Allerdings hat uns überrascht, dass diese beiden Dimensionen für die Menschen kaum religiös aufgeladen sind. Man schätzt da vor allem die sozio-kulturelle Qualität. Kirche wird zum Beispiel als ein Anbieter im Sozialwesen angesehen – neben vielen anderen Anbietern. Kirche wird vor allem als Dienstleister interessant. Das geht auch über die Konfessionsgrenzen hinaus. Hier sehen wir eine enorme Chance für eine neue Positionierung der Kirchen: sie müssen sich auch säkular bewähren und ihre religiösen Kompetenzen und Weisheiten auf säkulare Fragen hin attraktiv machen.
Frage: Aber Sakramente wie etwa die Taufe haben doch einen klar religiösen Bezug?
Szymanowski: Das stimmt, Kasualien sind nie völlig ohne religiöse Komponente. Allerdings ist diese nicht immer das Hauptmerkmal. Das lädt sich in Selbstverständlichkeiten auf oder in der Strukturierung von bestimmten Lebensabschnitten. Etwa im Kontext von Trauerbegleitung steht bei den meisten vordergründig kein religiöses Moment. Anders ist das natürlich bei den Sonntagsgottesdiensten, da entscheidet maßgeblich der Gottesglaube.
Frage: In Deutschland besuchen noch zehn Prozent aller Katholiken den Gottesdienst. Was haben Sie dazu herausgefunden?
Szymanowski: Katholiken geben weitaus häufiger an, den Gottesdienst zu besuchen, als sie es tatsächlich tun. Dafür gibt es Erklärungen, zum Bespiel der Wunsch, öfter hinzugehen. Oder er wird noch immer als gesellschaftliche Norm angesehen. Die Rückläufigkeit im Gottesdienst ist aber ganz klar erkennbar. 1996 waren es noch 18 Prozent. Die Zahl der entschiedenen Katholiken nimmt ab und damit auch die Zahl derjenigen, die sich eng mit dem christlichen Glauben identifizieren. Das hat Auswirkungen auf die Selbstverständlichkeit, Gottesdienste zu besuchen. Interessant ist aber, dass fast zwei Drittel aller Katholiken angeben, dass die Kirche die Gottesdienste feiern soll. Das scheint zu den Aufgaben der Kirche zu gehören.
Frage: Wo brauchen die Menschen also die Kirche noch?
Szymanowski: Nicht, dass sie mich falsch verstehen, die Kirche ist für die Menschen auch an Punkten wichtig, die wir vielleicht gar nicht so im Blick haben! Das Engagement der Kirche, gerade in Drittweltländern, wird äußerst positiv gesehen. Die Kirche hat aber auch eine sehr "kulturkonservierende" Funktion. Das heißt, für die meisten gehört die Kirche einfach zur Kultur. Auch auf einer moralischen Ebene. Aber hier sind nicht die einzelnen moralischen Normen der Kirche gemeint. Bekannt ist ja schon, dass die Sexualmoral von vielen als weltfremd und unmodern wahrgenommen wird. Es sind eher die christlichen Werte als solche, die grundlegenden Werte wie Nächstenliebe und Armenfürsorge. Die sind eine Lebensorientierung für viele Menschen.
Frage: Die Sexualmoral wird also als unmodern angesehen. Was stört die Menschen noch?
Szymanowski: Das sind vor allem die veralteten Rollenbilder und die hierarchischen und rückständigen Strukturen. Selbst konservative Milieus sagen, dass die Kirche nicht in die heutige Zeit passt. Interessant dabei ist, dass die Weltkirche in diesen Aspekten am schlechtesten bewertet wird. Das Bistum steht schon ein bisschen besser da und am besten die eigene Gemeinde. Vermutlich hängt das mit dem persönlichen Erfahrungsaspekt zusammen, den man mit der Kirche macht. Die weltkirchlichen Erfahrungen werden stark durch die Medien vermittelt. Etwa der Missbrauchsskandal. In der Gemeinde hat man aber, vor allem durch Jugendarbeit, viele positive Erfahrungen.
Frage: Das ist eine Menge Kritik…
Szymanowski: Ja, als Kirche müssen wir wirklich an unserem Image arbeiten. Die Fälle von sexualisierter Gewalt oder der Finanzskandal in Limburg. Das waren die ganz großen Krisenereignisse. Allerdings fällt auf, und das ist wirklich ernüchternd, dass sich die Gründe in den vergangenen 40 Jahren kaum geändert haben. Das zeigt der Vergleich mit Studienergebnissen aus den 1970er Jahren.
„Die Kirchensteuer selbst ist keine Ursache des Kirchenaustritts.“
Frage: Welche Rolle spielt die Kirchensteuer in diesem Zusammenhang?
Szymanowski: Die Kirchensteuer ist vermeintlich immer der bedeutendste Austrittsgrund. Auf den ersten Blick scheinen die Studien das auch zu belegen: Kirchensteuer ist immer unter den Top 3 der Gründe. Aber man muss da unterscheiden. Die Kirchensteuer selbst ist keine Ursache des Kirchenaustritts, sondern wird zum Auslöser, wenn die Bindung ohnehin schon gering ist. Gerade im kritischen Übergangsbereich des Lebenslaufes, etwa bei der ersten Gehaltsabrechnung, merken die Menschen dann, dass sie für etwas bezahlen, das sie gar nicht nutzen. Dahinter steht also ein Kosten-Nutzen-Kalkül. Wenn also wirklicher Nutzen aus der Kirchenmitgliedschaft gezogen wird, nicht unbedingt nur materiell, sondern spirituell, dann wird die Kirchensteuer auch nicht kritisch gesehen. Sie taucht vor allem im Zusammenhang mit negativen Perspektiven auf die Kirche auf.
Frage: Also kein direkter Zusammenhang?
Szymanowski: Genau, die Kirchensteuer ist nicht der zentrale Stein des Anstoßes. Die Kirchen müssen sich um die rein steuerlichen Belange also eigentlich weniger Sorgen machen, wohl aber müssen sie diese im Blick behalten. Wichtig ist, was dahinter steckt. Die Frage ist also eher: Kann Kirche überhaupt noch mit ihren Angeboten überzeugen? Am Zentrum für angewandte Pastoralforschung sind wir uns einig, dass hier ganz stark die Dienstleisterfunktion angefragt wird.
Frage: Aber den Gottesdienst nutzen die Menschen weniger. Liegt das am gesamten Arbeits- und Freizeitverhalten?
Szymanowski: Ja, auch das hat mit dem Kosten-Nutzen-Faktor zu tun. Angesichts vieler gesellschaftlicher Veränderungen überlegen sich die Menschen gut, wie sie ihre Freizeit verbringen. Viele Freizeitanbieter konzentrieren sich aufs Wochenende. Die Kirche muss da auch Angebote einbringen, die sich an der Biografie der Menschen orientieren.
Frage: Was kann die Kirche also konkret tun?
Szymanowski: Wenn Sie mich fragen – und ich gehöre mit 25 zur besonders austrittsgefährdeten Altersgruppe: Einheitslösungen helfen hier nicht mehr. Es muss auf vielen Ebenen neue Angebote geben, auch viel niedrigschwelliger wie etwa die Zeitfenster-Gottesdienste in Aachen. Vielleicht auch für Konfessionslose. Im Bistum Erfurt wird das an Weihnachten schon gemacht. Dieses "Nächtliche Weihnachtslob" gibt eine säkulare, aber auch christlich angehauchte Perspektive auf Weihnachten. Das gefällt mir sehr gut. Das Angebot muss aber auch zielgruppenorientierter werden. Das ist natürlich eine Herausforderung angesichts der finanziellen und personellen Ressourcen. Dann müssen wir uns von der Illusion befreien, dass es in naher Zukunft zu einer großen Eintrittswelle kommen wird oder dass wir die Austrittsproblematik von heute auf morgen beenden können. Wir müssen vorrangig Skandale vermeiden. Oder diese dann transparent aufbereiten. Wir erkennen in Studien ein sehr geringes Vertrauen in die Wirksamkeit der Aufklärungsarbeit.
Daneben ist die Modernisierung der Kirche sehr bedeutsam. Eine moderne Glaubenskommunikation, Nutzung von Social Media. Davon werde ich angesprochen. Allerdings muss man schauen, ob die Reichweite auf Facebook wie beim Bistum Essen oder Münster überhaupt noch ausreichend ist. Und wir müssen und klarwerden, dass es die traditionellen Familienformen in der Ehepastoral oder Vorbereitung auf die Kommunion gibt es so nicht mehr gibt. Das muss man aber in die konkrete Pastoral überführen. Das erfordert auch eine Haltungsänderung, vor allem bei Hauptamtlichen. Mir imponieren zum Beispiel Hauptamtliche, die so ticken wie ich. Es ist aber auch wichtig, dass die Bistumsleitung das auch nach außen verkörpert. Im Bistum Essen kann man sehen, wie viel das ausmacht. Hier erlebe ich eine Kirche im Aufbruch.