"Was ist mit dir los, Europa?"
Stattdessen seien "wir Kinder dieses Traumes versucht, unseren Egoismen nachzugeben, indem wir auf den eigenen Nutzen schauen und daran denken, bestimmte Zäune zu errichten". Franziskus verwies auf seine Rede vor dem Europaparlament im November 2014, als er Europa als Großmutter bezeichnete, die nicht fruchtbar und lebendig sei. Europa scheine seine Fähigkeit, etwas hervorzubringen und zu schaffen, verloren zu haben.
Nach eigenem Bekunden erlebe Franziskus ein Europa, das versucht sei, eher Räume zu sichern und zu beherrschen, anstatt neue Dynamiken in der Gesellschaft fördern. "Es ist ein Europa, das sich verschanzt." Und Franziskus fragt: "Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit? Was ist mit dir los, Europa, du Mutter von Völkern und Nationen, Mutter großer Männer und Frauen, die die Würde ihrer Brüder und Schwestern zu verteidigen und dafür ihr Leben hinzugeben wussten?"
Es gibt auch Hoffnung für Europa
Doch laut den Worten des Papstes gebe es auch noch Hoffnung. Man müsse sich dazu die Idee der Gründerväter "aktualisieren". Es brauche ein Europa, das imstande sei, einen neuen, auf drei Fähigkeiten gegründeten Humanismus zu schaffen: "Die Fähigkeit zur Integration, Fähigkeit zum Dialog und Fähigkeit, etwas hervorzubringen."
Der Papst warnte deshalb vor allen Bestrebungen zur kulturellen Vereinheitlichung. Sie seien weit entfernt davon, Wert hervorzubringen und "verurteilen unsere Völker zu einer grausamen Armut: jene der Exklusion". Diese rufe Feigheit, Enge und Brutalität hervor. "Die europäische Identität ist und war immer eine dynamische und multikulturelle Identität", sagte Franziskus. Eine geographische Eingliederung von Einwanderern reiche deshalb nicht aus. Die Herausforderung sei vielmehr eine kulturelle Integration, ohne die die Versuchung bestünde, sich auf einseitige Paradigmen zurückzuziehen und sich auf "ideologische Kolonialisierungen" einzulassen.
Dazu brauche es jedoch eine Kultur des Dialogs, die in alle schulischen Lehrpläne als übergreifende Achse der Fächer aufgenommen werden müsste, beschrieb Franziskus seine Vision. Das würde dazu verhelfen, der jungen Generation eine andere Art der Konfliktlösung einzuprägen als jene, an die wir sie jetzt gewöhnten. Darüber hinaus sei es dringend nötig, "Koalitionen" zu schaffen, die nicht mehr nur militärisch oder wirtschaftlich, sondern kulturell, erzieherisch, philosophisch und religiös sind.
Papst bemängelt hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa
Bei seinem dritten Punkt, der Fähigkeit, etwas hervorzubringen, wurde der Papst dann sehr deutlich. "Alle, vom Kleinsten bis zum Größten, bilden einen aktiven Part beim Aufbau einer integrierten und versöhnten Gesellschaft", sagte er. Dabei spielten jedoch die jungen Menschen eine dominierende Rolle. "Aber wie können wir unsere jungen Menschen an diesem Aufbau teilhaben lassen, wenn wir ihnen die Arbeit vorenthalten?", fragte das Kirchenoberhaupt und bemängelte die steigende Jugendarbeitslosigkeit in Europa.
Deshalb brauche es neue Wirtschaftsmodelle, die in höherem Maße inklusiv und gerecht seien, einen Übergang von einer "verflüssigten" zu einer sozialen Wirtschaft. Denn die aktuelle Wirtschaft ziele auf den Profit, statt in die Menschen zu investieren, indem sie Arbeitsplätze und Qualifikation schaffe. Außerdem neige die "verflüssigte" Wirtschaft dazu, Korruption als Mittel zu begünstigen, um Gewinne zu erzielen.
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Auch katholisch.de gratuliert dem Papst zur Verleihung des Karlspreises.
Schließlich äußerte der Papst auch seinen Wunsch, dass die Kirche am Wiederaufblühen eines zwar müden, aber immer noch an Energien und Kapazitäten reichen mitwirken soll. Dazu müsse sie jedoch "dem Menschen mit seinen Verletzungen entgegenkommen, indem wir ihm die starke und zugleich schlichte Gegenwart Christi bringen". Nur eine Kirche, die reich an Zeugen sei, vermöge von neuem das reine Wasser des Evangeliums auf die Wurzeln Europas zu geben.
"Als Sohn, der in der Mutter Europa seine Lebens- und Glaubenswurzeln hat, träume ich von einem neuen europäischen Humanismus", sagte der Papst. Er habe die Vision von einem jungen Europa als einer Mutter, die sich um ihre Kinder kümmere. Von einem Europa, das dem Armen brüderlich beistehe und ebenso dem, der Aufnahme suchend komme, "weil er nichts mehr hat und um Hilfe bittet". Er träume von einem Europa, "in dem das Migrantsein kein Verbrechen ist". Und er wünsche sich ein Europa, das die Kranken und die alten Menschen anhöre und ihnen Wertschätzung entgegenbringe statt sie zu unproduktiven "Abfallsgegenständen" herabzusetzen.