Weil Gott es so will? Die Todesstrafe im Alten Testament
Die Katholische Kirche verpflichtet sich mit einer Anpassung des Katechismus im Absatz über die Todesstrafe dazu, "sich mit Entschiedenheit für deren Abschaffung in der ganzen Welt" einzusetzen (KKK 2267). Weltweit haben 142 Länder die Todesstrafe in ihrem Rechtssystem abgeschafft oder wenden sie zumindest nicht mehr an. Für das Jahr 2017 hat Amnesty International 993 Hinrichtungen in 23 Ländern dokumentiert. Nun hat Papst Franziskus allgemein festgelegt, "dass die Todesstrafe unzulässig ist, weil sie gegen die Unantastbarkeit und Würde der Person verstößt".
Im Alten Testament hingegen, dem ersten Teil der christlichen Bibel, stellt die Todesstrafe eine selbstverständliche Praxis dar, deren Berechtigung explizit nicht angezweifelt wird. So sollen zum Beispiel die Tötung eines Menschen (Exodus 21,12), Menschenraub (Exodus 21,16), das Schlagen oder Verfluchen der Eltern (Exodus 21,15-17), Sodomie (Ex 22,18), Zauberei und Fremdgötterverehrung (Ex 22,17-19) mit dem Tod des Täters bestraft werden.
Das theologische Fundament der Todesstrafe
Kaum ist die Menschheit erschaffen, geschieht in der biblischen Geschichte bereits der erste Mord. Kain ermordet Abel. Gott bestraft ihn nicht mit dem Tod. Es folgt eine Geschichte der Menschheit voller Sünde, die zur Sintflut führt. Gott will alles Lebendige auf Erden aufgrund dessen Bösartigkeit zerstören (Genesis 6,5-7) – und nur Noah findet Gnade in seinen Augen. Noah wird nach der Sintflut zum Urvater aller Menschen und eine neue Weltordnung beginnt, zu der die Todesstrafe dazugehört. Gott erlässt ein Gesetz, das für die gesamte Menschheit gilt, als er zu Noah spricht: "Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird durch Menschen vergossen. Denn: Als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht." (Genesis 9,6)
Der hier wiedergegebene Text der Einheitsübersetzung aus dem Jahr 1978, stellt eine Lesemöglichkeit des Hebräischen Texts dar, die zwei klare Aussagen beinhaltet: (1.) Das menschliche Leben ist unantastbar, da es heilig ist. Als Abbild Gottes hat der Mensch eine besondere Würde und steht unter dem Lebensschutz Gottes. Daher muss an einem Mörder die Todesstrafe vollstreckt werden. (2.) Die Menschheit ist dazu beauftragt die Todesstrafe zu vollstrecken. Die Todesstrafe ist göttlicher Wille und die menschliche Gemeinschaft ist der Vollstrecker Gottes Willen. Diese Auslegung steht im Einklang mit der Vielzahl der biblischen Gesetze, in denen die Todesstrafe gefordert wird. Aber auf der Grundlage des hebräischen Textes von Genesis 9,6 gibt es noch eine zweite Lesemöglichkeit, die nun in der revidierten Einheitsübersetzung von 2016 nachzulesen ist: Wer Blut eines Menschen vergießt, um dieses Menschen willen wird auch sein Blut vergossen. Denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht. (Genesis 9,6)
Wer ist der Henker?
In der Auslegung von Gen 9,6 entscheidet das Verständnis eines einzelnen Buchstaben über die Aussage. Die ersten drei Wörter bereiten in der Übersetzung keine Probleme: "Der, der Menschenblut vergießt, …" – und dann kommt im Hebräischen Text das Wort בָּֽאָדָ֖ם (gesprochen: ba’adam). Es besteht aus zwei Teilen: einer Präposition, die durch den Buchstaben ב angezeigt wird und dem Wort אדם, das "Mensch" bedeutet. Die Präposition kann, wie die beiden Versionen der Einheitsübersetzung zeigen, unterschiedlich übersetzt werden: (1.) "durch den Menschen soll sein Blut vergossen werden": ein Mensch soll den Mörder hinrichten; oder (2.) "um des Menschen willen, soll sein Blut vergossen werden": weil das Blut des Opfers vergossen wurde, wird auch das Blut des Täters vergossen werden – der Täter wird sterben. Die erste Auslegungsmöglichkeit sagt deutlich, dass ein Mensch die Todesstrafe ausüben soll, während die zweite Lesemöglichkeit es offenlässt, wer das Subjekt der Tötung des Täters ist. In beiden Möglichkeiten wird dem Täter dessen Lebensschutz entzogen. Aber in der zweiten Lesemöglichkeit wird die Todesstrafe, die von Menschenhand vollstreckt wird, weder als notwendig begründet, noch wird ihr Vollzug eingefordert. Vielleicht spricht der nähere Kontext von Gen 9,6 für die zweite Lesemöglichkeit.
In der Welt nach der Sintflut darf der Mensch Fleisch essen (Genesis 9,3) und das friedliche Miteinander zwischen Mensch und Tier wandelt sich. Gott setzt Furcht und Schrecken in die Tiere, damit sie für den Menschen nicht zur Gefahr werden (Genesis 9,2). Damit die Welt nicht mehr von tödlicher Gewalt erfüllt wird, verkündet sich Gott als oberster Richter. "Wenn aber euer Blut vergossen wird, fordere ich Rechenschaft für jedes eurer Leben. Von jedem Tier fordere ich Rechenschaft und vom Menschen. Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem, der es seinem Bruder nimmt." (Genesis 9,5)
Dreimal wiederholt Gott in diesen kurzen Satz die Formel "ich fordere Rechenschaft ein". Wenn ein Mensch ermordet wird, sei es durch ein Tier oder durch einen Menschen, muss sich der Täter vor Gott verantworten. Aber anders als in der ersten Lesemöglichkeit für Genesis 9,6, "durch den Menschen soll sein Blut vergossen werden", fordert Gott hier nicht ein, dass der Mensch ein Tier, das einen Menschen umgebracht hat, jagen und töten soll. Die Strafe wird eingefordert, aber es wird nicht ausgesagt, wer die Strafe vollstreckt. Dies könnte darauf hindeuten, dass auch in Genesis 9,6 nicht festgelegt wird, wer die Tat vollstreckt. Genesis 9,5 beschreibt das Grundverhältnis zwischen den Menschen positiv. Die Bezeichnung "Brüder" verdeutlicht, dass die gesamte Menschheit sich als Familie verstehen soll. In diesem Sinne gibt es nicht einfach "irgendeinen" Menschen, sondern alle sind Geschwister und jeder Mord ist ein Bruder-/Schwestermord. Die Würde des Menschen ist in seiner Existenz als Abbild Gottes verankert und in den Augen der anderen Menschen durch die familiäre Bande gegeben.
Der Text von Genesis 9,6 lässt offen, ob der Mensch selbst die Todesstrafe vollstrecken darf: Ist der Täter nicht ebenso wie das Opfer ein Abbild Gottes? Die Gesetze im Buch Exodus formulieren auffallend unpräzise in Bezug auf die Vollstreckungsgewalt des Todesurteils. Auf die Tötung eines Menschen, auf Menschraub, auf das Schlagen oder Verfluchen der Eltern und auf Sodomie steht die Todesstrafe (vgl. Exodus 21,12-18). Die Formulierung der Strafe ist äußerst kurz, poetisch sehr schön und bedeutungsoffen. Durch eine etymologische Figur, der Verwendung zweier aufeinanderfolgender Worte mit dem selben Wortstamm, wird das Urteil prägnant mit nur zwei Worten formuliert: מ֥וֹת יוּמָֽת (gesprochen: mot jumat). Wörtlich übersetzt bedeutet dies: "zu sterben wird er getötet werden". Mit Nachdruck wird verdeutlicht, dass der Täter sich durch seine Tat den Tod verdient hat. Zudem ist die Hinrichtung institutionell normiert und damit gerechtfertigt. Allerdings lässt die passive Formulierung offen, wem es zusteht, das Urteil zu vollstrecken. Darf ein Mensch der Henker des Abbildes Gottes sein oder steht dies nur Gott selbst zu?
Das Volk entscheidet über Leben und Tod
Die Leerstelle der passivischen Formulierung im Buch Exodus wird im Buch Deuteronomium gefüllt. Die Gesellschaft ist sowohl am Todesurteil als auch an der Hinrichtung beteiligt – alles geschieht nicht nur im Namen des Volkes, sondern durch das Volk. In jedem Einzelfall muss von Menschen verantwortungsvoll entschieden werden. Ein Todesurteil kommt nur zustande durch übereinstimmende Aussagen von zwei oder drei Zeugen und die Vollstreckung wird nicht an einen Henker delegiert, sondern die Gemeinschaft selbst, voran die Zeugen, vollstrecken das Urteil durch eine gemeinschaftliche Steinigung des Verurteilten: "Wenn es um Leben oder Tod eines Angeklagten geht, darf er nur auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen hin zum Tod verurteilt werden. Auf die Aussage eines einzigen Zeugen hin darf er nicht zum Tod verurteilt werden. Wenn er hingerichtet wird, sollen die Zeugen als Erste ihre Hand gegen ihn erheben, dann erst das ganze Volk. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen." (Deuteronomium 17,6-7)
Dieses Gesetz führt vor Augen wie konkret die Vollstreckung der Todesstrafe die Gemeinschaft betrifft. Die Zeugen legen nicht nur ein Zeugnis ab, sondern sie müssen Verantwortung übernehmen für den Tod des Angeklagten. Ein Todesurteil ist nicht abstrakt, sondern dessen Folgen werden real vor Augen geführt und jeder im Volk muss einen aktiven und verantwortlichen Anteil an der Vollstreckung übernehmen.
Das Alte Testament bietet kein Plädoyer gegen die Todesstrafe, aber vielleicht stellt bereits die Aussage in Genesis 9,6 die Frage, ob ein Mensch die Todesstrafe vollstrecken darf. Der Blick in die biblischen Gesetze zeigt zudem weitere kritische Anfragen, die hinter den Texten stehen: Wer hat das Recht über das Leben eines Menschen zu urteilen? Wer hat die Verantwortung für die Vollstreckung zu tragen? Man kann gar mit der Bibel gegen die Bibel argumentieren: Hört ein Mörder auf Abbild Gottes zu sein? Gehört ein Mörder nicht trotz seiner Tat auch zur Menschheitsfamilie? Wem steht es zu, die Todesstrafe zu vollstrecken? Diese Fragen sind durch die Anpassung des Katechismus durch das Lehramt „im Licht des Evangeliums“ beantwortet worden. Es gibt auch im Neuen Testament keine Stelle, die die Abschaffung der Todesstrafe fordert. Im Zentrum der Evangelien selbst steht die an Jesus Christus vollzogene Todesstrafe. Was es jedoch bedeutet, die Bibel "im Licht des Evangeliums" zu lesen, hat Papst Franziskus in seiner Ansprache zum 25. Jahrestag der Veröffentlichung des Katechismus verdeutlicht: "Man kann das Wort Gottes nicht einmotten als wäre es eine alte Wolldecke, die man vor Schädlingen bewahren müsste. Nein! Das Wort Gottes ist eine dynamische Wirklichkeit, stets lebendig, und es entwickelt sich und wächst […]." Die Bibel selbst ist ein Dialog verschiedener Autoren verschiedener Zeiten – und dieser Dialog, der zu neuen Erkenntnissen führen kann, setzt sich bis heute im Lesen und der Auslegung der Bibel fort. Der Text der Bibel selbst, wie sich an Genesis 9,6 zeigt, ist offen für Interpretationen und Anfragen.