Wem die Stunde schlägt
Sie gehört mit ihren meist goldenen zwölf Ziffern zu jeder Kirchenidylle dazu – und jeder, der heute sein Smartphone nicht rauskramen möchte, kann an ihnen ablesen, wie spät es ist. Kirchturmuhren sind aber nicht nur Zeitanzeiger. Viele von ihnen haben eine lange Geschichte, sind stumme Zeugen vergangener Gepflogenheiten und Protagonisten in Legenden. Begonnen hat all dies – und damit auch unsere moderne Zeitrechnung – in mittelalterlichen Klöstern: Die Ordensleute brauchten eine Richtschnur, mit der sie ihre Gebets- und Arbeitszeiten festlegen konnten, da die benediktinische Ordensregel jeder Hore ein bestimmtes Gebet vorschrieb. Das war sogar so prägend, dass sich der Name der Tageszeit auf das jeweilige Stundengebet übertrug, so etwa die Terz zur dritten Stunde oder die Non zur neunten. Da verwundert es nicht, dass die frühesten Uhrmacher in Europa Mönche waren.
Mechanische Uhren mit Ziffernblatt fanden seit dem 13. Jahrhundert Verbreitung. Diese neue Technik war aufwändig in der Herstellung und damit teuer. Zunächst wurden Kirchen mit ihnen ausgestattet, ab dem 14. Jahrhundert sind sie auch im säkularen Bereich zu finden, etwa an Rathaustürmen. "Vorher gab es Sonnenuhren und Schlaguhren, die zu jeder Stunde eine Glocke anschlugen, sodass zur Messe oder zum Angelusgebet geläutet werden konnte", erklärt Eduard Saluz, Direktor des deutschen Uhrenmuseums in Furtwangen. "Mit der mechanischen Uhr am Turm wurde zum ersten Mal die Zeit verbindlich angezeigt."
Damit änderte sich vielerorts auch die Zeitrechnung: Hatte man sich zuvor nach dem Sonnenstand gerichtet und seinen Tag in "Horen" eingeteilt, die im Sommer länger und im Winter kürzer waren, unterteilte die Uhr nun den Tag und die Nacht in zwölf gleichlange, sogenannte äquinoktiale Stunden. "Die ersten Uhren an den Kirchen haben Ziffernblätter, an denen man sowohl die Horen wie auch die äquinoktialen Stunden ablesen konnte." Doch diese Umstellung dauerte: Die Zeitrechnung, so wie wir sie heute kennen, wurde erst ab dem 19. Jahrhundert verbindlich.
Das Chaos mit den Zeitrechnungen
Auch Giacomo Casanova berichtet in seinen Memoiren von den verschiedenen Zeitrechnungen: Darin schreibt der venezianische Schriftsteller von einer Unterhaltung mit seiner Köchin in Parma im Jahr 1748. Das Herzogtum war zuvor an Philipp von Spanien übergegangen, der dort die die moderne Zeitzählung einführte. Zuvor hatten die Parmesaner ihre Uhren nach der Sonne gestellt. Die Köchin klagt über das Chaos: Die Sonne gehe nun jeden Tag zu einer anderen Zeit unter, die Bauern wüssten nicht mehr, wann sie zum Markt gehen sollten. "Seit drei Monaten weiß in Parma kein Mensch mehr, wie viel Uhr es ist", schimpft sie.
Für eine Bevölkerung, die hauptsächlich von der Landwirtschaft gelebt habe, seien die temporalen Stunden praktikabler gewesen, erläutert Saluz. "Diese Zeitrechnung richtete sich ja nach der Sonne und damit nach der Natur." Der Übergang von der Sonnenuhr zum Ziffernblatt könne rückblickend als Start des Kapitalismus verstanden werden, "denn eine Uhr ist ja nichts anderes als ein Zähler. War es früher unüblich, Zahl und Zeit zusammenzubringen, so konnte man durch die Uhr anfangen, mit der Zeit zu rechnen", meint Saluz.
Die ersten Uhren waren nicht sehr genau, ihre Mechanik noch nicht so ausgefeilt. "Sie wurden nach der Sonnenuhr gestellt und hatten nur einen Zeiger, der die Stunde anzeigte", erklärt Saluz. "Später dann gab es Viertelstundenzeiger. Die waren aber klein, weil sie nicht so wichtig waren." Die Uhr am Perlachturm in Augsburg etwa hat noch die Aufschrift für einen solchen Viertelstundenzeiger auf ihrem Ziffernblatt: Die Viertel sind mit den Ziffern von eins bis vier markiert. Mancherorts bekam der Viertelstundenzeiger ein gesondertes Ziffernblatt neben dem des Stundenzeigers.
Eine Gewohnheit, kein Schreibfehler
Eine Besonderheit an vielen Kirchturmuhren ist auch heute noch die Beschriftung: Anstelle einer römischen vier, die man "IV" schreibt, steht dort meist "IIII". Dazu gibt es verschiedene Theorien, etwa, dass das Ziffernblatt mit dieser Darstellung ästhetischer aussähe, sich leichter lesen lasse oder dass man im Mittelalter leichter addieren als subtrahieren konnte und daher die vier als vier Striche darstellte. Doch Eduard Saluz hält davon nicht viel: "Die vier mit vier Strichen war im Mittelalter die gängige Schreibweise. Sie findet sich überall in mittelalterlichen Manuskripten." Davor und danach sei das jedoch anders gewesen: "Die Römer haben IV geschrieben und ab dem 16. Jahrhundert kommt das auch wieder vor." Richtig oder falsch sei daher weder das eine noch das andere.
Im 17. Jahrhundert gab es wieder eine Neuheit: Die Pendeluhren wurden eingeführt und damit die Möglichkeit, die Zeit genauer zu messen. "Nun ließ sich die Stunde in 60 Minuten teilen, viele Uhren bekamen deswegen einen Minutenzeiger", sagt Saluz. Dieser Zeiger musste notwendigerweise länger sein als der Stundenzeiger: "Nur so kann man ablesen, ob es sieben oder neun Minuten nach ist."
Eine Teufelslegende zu Kirchturmuhren hat sich vor allem im Süden Europas verbreitet. An den Kirchen dort, wie auch am Petersdom im Vatikan, sind meist zwei oder sogar mehr Uhren angebracht, von denen vielerorts eine immer eine andere Zeit als die Ortszeit anzeigt. Der Legende nach habe man damit den Teufel verwirren wollen, damit er nicht wissen könne, wann die Stunde schlage. Museumsdirektor Saluz hat dafür eine andere Erklärung: "In der Türkei und in Italien galt bis ins 19. Jahrhundert eine völlig andere Vorstellung der Tagesorganisation. Dort hat der neue Tag etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang begonnen." Morgens um zwei nach dieser Zeitrechnung sei dann etwa abends um neun nach der deutschen Zeitrechnung gewesen. So sei es gekommen, dass Uhren im öffentlichen Raum zwei verschiedene Zeiten angezeigt hätten, "die traditionelle Zeit der sogenannten Italienischen Stunden und die moderne Zeit, bei der um Mitternacht der neue Tag begann."
Uhren prägen heute vielerorts noch immer das Bild der Kirche. Aber "richtige" Kirchturmuhren seien das in der Regel nicht mehr, so Saluz: "Das ist ein ganz normaler Zeitanzeiger mit Motorgetriebe zum Zeigerbewegen." Das historische, mechanische Getriebe sei auf der Strecke geblieben, "weil die Uhren sonst sehr ungenau laufen würden." Stattdessen wurden viele Kirchturmuhren mit Funkempfängern für die amtliche Zeit ausgestattet, der die Turmuhr – und oft auch das Geläut der Kirche – sekundengenau steuert. "Diese Uhren sind heute also immer noch sehr verbindliche Signale", erklärt Saluz. Und damit hänge noch eine Besonderheit zusammen: Weil am Kirchturm alle die Zeit ablesen können, kommt vielerorts nicht die Pfarrgemeinde für den Unterhalt der Uhr auf, sondern die Verwaltung der Kommune.
Aber auch, wenn Kirchturmuhren als Zeitanzeiger längst nicht mehr die Bedeutung von damals haben, ist eines geblieben: das Stundengebet. Noch heute beten Ordensleute, Priester und viele Gläubige es täglich – für Geistliche in der katholischen Kirche ist es sogar verpflichtend. Auch die ursprünglichen Namen haben sich erhalten. So betet man heute etwa die Terz gegen neun und die Non um 15 Uhr.
Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst am 14.08.2017.