Wie viel Heiligen Geist verträgt die Kirche?
Dieser vage Kurztitel allein hätte wohl kaum Aufsehen verursacht. Aufhorchen ließ vielmehr das, was danach kommt: "über die Beziehung zwischen hierarchischen und charismatischen Gaben im Leben und in der Sendung der Kirche".
Spontanität versus Struktur
Offenbar will der Vatikan ein Problem angehen, das so alt ist wie die Kirche selbst: Wie viel Spontanität, Kreativität, Unruhe und Freiheit verträgt die Kirche, und wie viel Strukturen, Ämter und Hierarchie braucht sie? Damit verbunden ist auch die Frage, wie die kirchliche Hierarchie sich zu Berichten von Gläubigen stellt, die behaupten, ihnen sei Jesus, die Gottesmutter Maria oder ein Engel in einer Privatoffenbarung erschienen.
Für den Vatikan sind die seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil entstandenen charismatischen Bewegungen stets mit einer Gratwanderung verbunden. Einerseits werden sie geschätzt, weil sie viele junge Leute ansprechen, die eine herkömmliche Seelsorge nicht mehr erreicht, und weil sie Außenstehende für den Glauben gewinnen. Auch ihr radikal christlicher Lebensentwurf, der alle Bereiche umfasst, wird in der Kirchenzentrale geschätzt. Andererseits gehen in Rom jedoch regelmäßig Beschwerden von Ortsbischöfen oder Bischofskonferenzen ein, die sich über eine mangelnde Integrationsbereitschaft solcher Bewegungen beklagen.
Vor diesem Hintergrund näherte Kardinal Müller jüngst in einem Interview Spekulationen, Rom könnte künftig eine härtere Gangart gegenüber den sogenannten charismatischen Bewegungen einschlagen. Diese Gruppierungen seien wie "ungeplante Kinder", sagte Müller dem "Osservatore Romano" vor einigen Tagen. Sie kämen überraschend, doch wenn sie einmal da seien, dann liebe man sie. Auch wenn charismatische Bewegungen oft eine "explosive Neuheit" auszeichne und sie der "Reinigung" bedürften, seien sie ein Geschenk für die Kirche, zitierte die Zeitung Müller.
Ein Beispiel ist der "Neokatechumenale Weg". Ende 2010 beschwerten sich die japanischen Bischöfe bei Benedikt XVI. über diese 1964 in Spanien gegründete charismatische Bewegung, die auch in Deutschland vertreten ist. Sie forderten ein fünf Jahre währendes Wirkungsverbot des Neokatechumenalen Wegs in Japan. Der Papst kam diesem Wunsch allerdings nicht nach, obwohl sich auch der Vatikan mit den Neokatechumenalen schwertat. Er erkannte die Bewegung 2008 erst an, nachdem sie sich von ihrer mit der kirchlichen Lehre unvereinbaren Praxis losgesagt hatte, im geschlossenen Kreis die Eucharistie zu feiern - parallel zur Gemeindemesse.
Franziskus, das betonte in dem Interview auch Kardinal Müller, schätzt charismatische Bewegungen sehr. Ihr dynamisches Auftreten und ihr Missionseifer entspricht in vielem dem, was sich der Papst von einer "Kirche im Aufbruch" wünscht. Allerdings pocht er ebenso wie seine Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI. auf eine bessere Integration charismatischer Bewegungen innerhalb der katholischen Kirche.
Das wohl bekannteste Beispiel der Kirchengeschichte für die gelungene Integration einer charismatischen Bewegung ist mit Franziskus' Namenspatron verbunden, dem heiligen Franz von Assisi. Es sind die Bettelorden im Mittelalter. Franziskaner und Dominikaner sorgten mit ihrem radikalen Bekenntnis zur Armut und ihren Wanderpredigern für gehörige Unruhe in der kirchlichen Hierarchie. Papst Innozenz III. gelang es jedoch, sie Anfang des 13. Jahrhunderts fest in das kirchliche Leben einzubinden und zu verhindern, dass es zu einer Abspaltung dieser Bewegung von der Kirche kam.
Kirchenrechtliche Schritte werden nicht erwartet
Ähnlich explosiv wie damals ist die Lage heute nicht. Dem Vernehmen nach geht es in dem angekündigten Brief der Glaubenskongregation an die Bischöfe der Weltkirche nicht um konkrete Maßnahmen oder kirchenrechtliche Schritte. Er soll, wie zu hören ist, in erster Linie eine Entscheidungshilfe für Ortsbischöfe sein.