"Wir gehen in der Spur des Opfers"
Frage: Herr Weihbischof Bongartz, nach den Missbrauchsvorwürfen gegen Bischof Janssen ist für viele Menschen eine Welt zusammengebrochen. Wie viele Körbe an Briefen müssen Sie beantworten?
Bongartz: Natürlich haben wir Briefe bekommen, aber doch in einem überschaubaren Maß. Die Schreiber bekunden ihre Bestürzung und ihr Unverständnis über die Vorwürfe. Sie können sich das bei Bischof Heinrich Maria Janssen einfach nicht vorstellen.
Frage: Hat sich bei der Diözese noch ein mögliches Opfer gemeldet?
Bongartz: Nein.
Frage: Kritiker werfen dem Bistum eine Vorverurteilung von Janssen vor. Sie stören sich an dem Satz, dass die Vorwürfe für plausibel gehalten werden. Dies werde weithin als Anerkennung der Tatsächlichkeit verstanden.
Bongartz: Wir haben auf pastorale Weise das Leid des Betroffenen anerkannt und ihm deshalb 10.000 Euro zukommen lassen. Dies darf aber nicht als Bestätigung der Tatabläufe verstanden werden. Das gilt es zu unterscheiden. Wir sind nach den neuen Leitlinien der Bischofskonferenz vorgegangen, die ja einen Paradigmenwechsel beinhalten: Wurde in früheren Jahrzehnten generell Opfern misstraut und Tätern geglaubt, gehen wir nun in der Spur des Opfers. Wir schaffen einen Raum, in dem mit dem notwendigen Vorschuss an Vertrauen mögliche Opfer ihre Not beschreiben können. Was uns dabei der Mann berichtet hat, erscheint uns plausibel.
Frage: Der älteste amtierende Pfarrer der Diözese meint: "Wer eine Beschuldigung erhebt, muss sie beweisen." Sonst seien die Vorwürfe nichts als eine bloße Behauptung...
Bongartz: Betroffene können keine stichhaltigen Beweise im Sinne von Zeugenschaft vorlegen. Denn Missbrauch findet ja immer im Verborgenen statt. Die Anerkennungszahlung ist kein juristischer Vorgang, sondern eine pastorale Antwort an das Opfer. Damit signalisiert die Kirche dem Betroffenen, ihm angesichts der Plausibilität der Vorwürfe und der vorgelegten Eidesstattlichen Erklärung Glauben zu schenken. Das ist ein Balanceakt.
Frage: Im konkreten Fall wird die Plausibilität infrage gestellt.
Bongartz: Wir haben intensiv mit dem Opfer gesprochen und die Protokolle mit den Ansprechpartnern für Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs intensiv diskutiert. Aber natürlich können auch wir keine Beweise vorlegen.
Frage: Insider von damals halten einen Missbrauch in der Dom-Sakristei oder dem Bischofshaus für unmöglich, weil dort immer andere Personen - Küster oder die im Haushalt tätigen Ordensfrauen - anwesend gewesen sein sollen.
Bongartz: Vor einigen Jahren hatten wir vor Gericht einen Missbrauchsfall. Dort haben sich auch alle gefragt, wie denn ein Priester im nahen Umfeld der Eltern ein Kind missbrauchen konnte. Niemand kann heute mehr sagen, was vor 50 Jahren möglich war oder nicht.
Frage: Kritiker fordern die Einschaltung eines von der Kirche unabhängigen Experten, der nach den Regeln der Strafprozessordnung vorgeht. Auch die Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch" verlangt eine unabhängige Untersuchung - etwa durch einen Historiker. Was halten Sie davon?
Bongartz: Wir werden eine Steuerungsgruppe einsetzen und einen Prüfauftrag an ein unabhängiges Rechtsanwaltsbüro vergeben. Dabei wird nicht die Anklage des Opfers neu geprüft. Die wird auch keine außergerichtliche Stelle beurteilen können. Vielmehr soll unter Wahrung der Verschwiegenheit überprüft werden, ob die Bistumsleitung die Leitlinien zum Umgang mit sexuellen Missbrauch und die Richtlinie für materielle Leistungen zur Anerkennung des Leids der Bischofskonferenz richtig angewandt hat.
Frage: Manch einer zweifelt die Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers an. Er wird sogar als Erpresser hingestellt, weil er damit gedroht habe, mit seinem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn er nicht die von ihm verlangten 50.000 Euro als Entschädigung bekomme. Wie schätzen Sie den Menschen ein, der Ihnen persönlich den Missbrauch schilderte?
Bongartz: Seine Geschichte des Missbrauchs ist plausibel, auch wenn es keine letzte Sicherheit gibt. Diese Spannung müssen wir aushalten. Natürlich werfen die Geldforderungen einen Schatten auf den Mann. Umgekehrt muss man sich aber auch fragen: Warum sollte er mit seiner Scham an die Öffentlichkeit gehen, wenn der Missbrauch gar nicht passiert wäre.
Link-Tipp: Erstmals Missbrauchsvorwurf gegen deutschen Bischof
Zum ersten Mal richten sich gegen einen Bischof in Deutschland Missbrauchsvorwürfe. Der frühere und 1988 verstorbene Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen soll in den 1950er- und 1960er-Jahren einen Jungen missbraucht haben.Frage: Der "Eckige Tisch" wirft Ihnen mangelnde Transparenz vor. Eine frühere Information über die Vorwürfe hätte andere mögliche Opfer ermutigen können, sich ebenfalls zu melden.
Bongartz: Die Leitlinien geben klar vor, einem Opfer zu folgen, wenn es um Verschwiegenheit bittet. Im konkreten Fall haben wir dem Betroffenen deutlich gemacht, dass er bestimmt, ob sein Fall öffentlich wird oder nicht. Und ihm gesagt: Wenn er an die Öffentlichkeit geht, gehen wir mit. Insofern hat unser Vorgehen nichts mit Vertuschen zu tun.
Frage: Die Anonymität des mutmaßlichen Opfers hätte man ja wahren können.
Bongartz: Aber was hätte das Bistum zu einem früheren Zeitpunkt mitteilen können? Wir hätten nur sagen können, dass wir nach Vorwürfen gegen Bischof Janssen eine Zahlung zur Anerkennung des Leids von 10.000 Euro bezahlt haben. Weitere Informationen über die Umstände, wer die Vorwürfe erhoben hat und was passiert ist, wären aus Opferschutzgründen nicht möglich gewesen. Die Halbinformationen hätten aber zurecht zu einem Sturm der Entrüstung geführt und uns den Vorwurf des Rufmords eingebracht. So darf man nicht mit einem Menschen, auch nicht mit einem Bischof, umgehen.
Frage: Wie reagieren Sie auf Forderungen, nach Bischof Janssen benannte Straßen in Kevelaer oder Hildesheim umzubenennen?
Bongartz: Aus meiner Sicht ist es zum jetzigen Zeitpunkt viel zu früh, darüber zu entscheiden. Auch wenn wir aus der seelsorglichen Haltung des Vertrauens dem mutmaßlichen Opfer eine Zahlung in Anerkennung des Leids geleistet haben, für Bischof Janssen gilt die Unschuldsvermutung. Solange diese gilt, halte ich die Antwort des Bürgermeisters von Kevelaer für klug: Der Straßenname bleibt.
Frage: Das Opfer wünscht die Entfernung der Gebeine Janssens aus der Bischofsgruft.
Bongartz: Darüber denke ich nicht nach. Im Übrigen: Alle im Dom bestatteten Bischöfe sind bis auf zwei nicht heiliggesprochen. Danach zu fragen, welcher ethische Maßstab gelten soll, damit jemand als Bischof im Dom beigesetzt werden kann, halte ich für nicht geboten.