Vor dem Katholikentag spricht Kardinal Woelki über die Lage der Kirche

"Wir sind schon lange keine Volkskirche mehr“

Veröffentlicht am 28.03.2016 um 16:46 Uhr – Lesedauer: 
Glaube

Köln ‐ Vor dem Leipziger Katholikentag berichtet Kardinal Rainer Maria Woelki von seinen Erfahrungen mit den Laientreffen und erklärt, warum ihm die Krisenstimmung, die in der deutschen Kirche bisweilen herrscht, nicht auf den Magen schlägt.

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Frage: Herr Kardinal, werden Sie das Geschehen auf dem Leipziger Katholikentag verfolgen und wenn ja wie?

Woelki: Zeitweise bin ich in Leipzig dabei. Am Donnerstag, dem Fronleichnamsfest, kann ich zum Gottesdienst natürlich nur in Köln sein – schließlich wurde die Fronleichnamsprozession in Köln erfunden (lacht). Am Freitag und Samstag bin ich dann in Leipzig und dort auch im Programm eingebunden. Ansonsten werde ich natürlich die Berichterstattung über das Ereignis verfolgen.

Frage: Welche Eindrücke haben Sie von früheren Katholikentagen mitgenommen?

Woelki: Bei diesen großen Veranstaltungen zeigt sich zum einen die ganze bunte katholische Vielfalt mit allem, was dazugehört. Dazu trägt auch die Struktur mit dem Zentralkomitee als Veranstalter und einem Bistum als Gastgeber bei. Zum anderen machen die Katholikentage erlebbar, dass wir als Christen nicht in Wolkenkuckucksheimen leben, sondern auf dem Boden der jeweiligen gesellschaftlichen Realitäten stehen und uns dort aus unserem Glauben heraus beteiligen und einmischen. Das zeigt ja auch das jeweilige Katholikentagsmotto an, diesmal "Seht, da ist der Mensch". Ein Katholikentag kann also sozusagen die ganze Spannweite eines weit gefassten "ora et labora" abbilden, wenn "ora" die Gebetszeiten, Gottesdienste und spirituellen Angebote meint und "labora" auch den Austausch, die Diskussionen und Aktionen umfasst, die am Ende ja zu der genannten Beteiligung aus dem Glauben heraus führen wollen.

Bild: ©katholisch.de

Plakat für den 100. Deutschen Katholikentag 2016 in Leipzig.

Frage: Viele Menschen in Ostdeutschland sind kirchenfern, weil sie ganz selbstverständlich ohne Glauben aufgewachsen sind. In den katholischen Hochburgen hingegen kehren immer mehr Menschen ganz bewusst der Kirche den Rücken. Wie schmerzlich erleben Sie das?

Woelki: Ich glaube nicht, dass es heute in Deutschland noch katholische Hochburgen gibt. Wir sind lange keine Volkskirche mehr, von solchen Vorstellungen müssen wir uns verabschieden und uns der Realität stellen. Dennoch, jeder Kirchenaustritt ist einer zu viel, und wir dürfen nicht so tun, als sei diese Entwicklung schicksalsergeben zu ertragen. Das widerspricht nicht zuletzt fundamental unserem christlichen Grundauftrag. Aber in Berlin habe ich auch gelernt, wie stark eine Kirche in der Diaspora sein kann. Wer sein Christsein in der Diaspora lebt, ist viel häufiger in Situationen, sich dazu auch bekennen zu müssen. Als einziger Schüler der Klasse zur Erstkommunion zu gehen, sich als Einzige im Betrieb frei zu nehmen, weil man Fronleichnam feiern will, oder als einziger im Freundeskreis erklären zu können, warum an Pfingsten zwei Tage frei sind: davor habe ich großen Respekt, und davon können wir einiges lernen. Nach Jesu Wort sollen wir immer eine Kirche sein, die ihrer Berufung folgt und hinausgeht zu den Menschen, um das Wort Gottes unter die Menschen zu bringen. Das ist keine Aufgabe nur für so genannte Hauptamtliche, und das setzt natürlich die eben erwähnte Informiertheit über den eigenen Glauben voraus.

Frage: Suchen Sie auch zu diesen Menschen den Dialog?

Woelki: Aber selbstverständlich, das habe ich schon in meinem Fastenhirtenbrief 2015 gesagt: Es darf uns doch nicht nur um die zehn oder zwölf Prozent derer gehen, die sonntags die Messe mitfeiern oder gar nur um die in der Regel noch kleinere Gruppe der sogenannten Kerngemeinde. Wir müssen vielmehr auch die anderen 85 bis 90 Prozent im Blick behalten, und zwar so, dass sie innerlich beteiligt sind, mit Christus in Verbindung kommen und sich selbst als einen lebendigen Teil von Kirche erfahren. Wir müssen also den Blick weiten und auch die Menschen wahrnehmen, die am Rande der Kirche stehen oder die Gott gar nicht kennen. Wie Abraham mutet Gott uns zu, dass wir uns dabei auf neue, unbekannte Wege wagen. Das kann nur ein geistlicher Prozess sein, indem wir neu und intensiv auf das Wort Gottes hören und unser Handeln dann davon leiten und bestimmen lassen. Gemeinden etwa müssen Orte sein, an denen man erfahrbar gemeinsam glaubt, lebt und hofft. Ein wesentlicher Teil davon ist Caritas: Wo Caritas handelt, handelt Kirche. Caritas ist auch Verkündigung. Auch unsere caritativen Einrichtungen müssen daher solche Orte erfahrbaren Glaubens und Lebens sein, und umgekehrt müssen unsere Gemeinden diakonischer werden.

„Natürlich haben uns in den letzten Jahren diverse Krisen durchgeschüttelt, und die schlimmsten waren selbstverschuldet.“

—  Zitat: Kardinal Rainer Maria Woelki

Frage: Wenn man die kirchlichen Debatten der vergangenen Jahre verfolgt, ist allerorten Krisenstimmung zu spüren. Schlägt Ihnen das manchmal auf die Stimmung?

Woelki: Nein, und zwar schon deshalb nicht, weil ich einen solchen einseitigen Pessimismus nicht teile. Natürlich haben uns in den letzten Jahren diverse Krisen durchgeschüttelt, und die schlimmsten waren selbstverschuldet. Aber so wie wir uns von einer Zeit eines für viele als beinahe selbstverständlich empfundenen Volkskirchentums verabschieden müssen – das übrigens in weltkirchlicher wie historischer Perspektive eher die Ausnahme als die Regel ist –, so müssen wir mit den neuen Herausforderungen und Fragestellungen neu umgehen lernen. Das bedeutet vor allem, darin den Anruf Gottes zu erkennen, der uns hier, heute und jetzt in diese konkrete Situation sendet mit dem Auftrag, seine Kirche zu sein.

Frage: Was tun Sie, um in sich das Feuer des Glaubens zu erhalten?

Kardinal Rainer Maria Woelki: Ich setze mich jeden Tag dem Wort Gottes aus und suche es gemeinsam mit den Mitglaubenden konkret in die Tat umzusetzen.

Frage: Die wohl größte gesellschaftliche Herausforderung ist aktuell die Flüchtlingskrise. Das Erzbistum Köln hat schon sehr früh reagiert und die "Aktion neue Nachbarn" ins Leben gerufen. Was konnte sie bislang bewegen?

Woelki: Die "Aktion Neue Nachbarn" ist vor allem ein Netzwerk, in dem sich die Menschen vor Ort zusammenfinden, um konkrete Hilfe zu leisten. Nur ein paar Zahlen: Wir bieten flächendeckend kostenlose Sprachförderung auf allen Levels an. 2015 waren das über 390 Deutschkurse mit etwa 7.400 Teilnehmenden. Kirchliche Organisationen im Erzbistum Köln sind Träger von rund 30 Flüchtlingsheimen. Pfarrgemeinden, kirchennahe Wohnungsgesellschaften und sonstige Träger haben für Flüchtlinge mehrere hundert Wohnungen im Erzbistum bereitgestellt. In der Facebook-Gruppe „NeueNachbarnNetzwerk“ tauschen sich mehrere tausend Engagierte nicht nur über alle Fragen der Flüchtlingshilfe aus, sondern miteinander auch alles Notwendige vom Kühlschrank bis zum Wintermantel. In den Jahren 2015 und 2016 stellt das Erzbistum für Flüchtlingshilfe insgesamt 27,5 Millionen Euro bereit. Flüchtlingskinder besuchen unsere Kitas und Schulen, und so weiter. Flüchtlingshilfe ist in vielen unserer Arbeitsbereiche inzwischen Teil des Alltags geworden. Dafür bin ich sehr dankbar.

Autobahnschild in Richtung Leipzig.
Bild: ©picture alliance / ZB

Am 25. Mai geht es los: Dann startet der Katholikentag in Leipzig.

Frage: Die Euphorie des Anfangs ist mittlerweile aber etwas verflogen. Immer mehr Menschen setzen hinter das berühmte "Wir schaffen das" gleich mehrere Fragezeichen. Wie erleben Sie die Stimmung?

Woelki: Vielen ist bewusst geworden, dass uns das Flüchtlingsthema für viele Jahre beschäftigen wird. Umso wichtiger ist, dass vor allem unsere Politiker zügig tragfähige und vor allem europaweite Lösungen entwickeln, damit wir diese Herausforderung bewältigen. Vor allem die Ereignisse der Silvesternacht in Köln haben viele Menschen verunsichert. Hier gilt es zunächst klar zu unterscheiden, wer wofür verantwortlich ist. Es darf nicht passieren, solche Ausfälle pauschal "den Flüchtlingen" unterzuschieben. Deshalb habe ich auch die "Kölner Botschaft" von Navid Kermani mit unterschrieben. Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass wir viele Jahre und Jahrzehnte meistens mit dem Rücken zu den Krisenherden und Problemen in der Welt gelebt haben. Die Globalisierung der Wirtschaft zum Beispiel ging einher mit einer Globalisierung der Gleichgültigkeit. Deshalb haben wir heute so viel Nachholbedarf bei der Globalisierung der Nächstenliebe. Dazu gehört nicht nur akute Flüchtlingshilfe, sondern zum Beispiel, dass wir verantwortlich mit dem umgehen, was an Ressourcen in der Welt da ist. Was diese Zusammenhänge betrifft, stehen wir an einer Zeitenwende.

Frage: Ein Großteil der Flüchtlinge kommt aus muslimisch geprägten Ländern. Stellt deren Glaube auch eine Anfrage an uns Christen?

Kardinal Rainer Maria Woelki: Das erlebe ich bei vielen Ehrenamtlichen aus unseren Gemeinden, die sich für die Flüchtlinge engagieren. Wenn sie dann von den Flüchtlingen gefragt werden: Warum macht ihr das? Warum helft ihr uns? – dann ist das für manche ein Anstoß, neu über den eigenen Glauben nachzudenken und sich tiefer damit auseinanderzusetzen, was sie zu diesem Handeln motiviert. Man könnte sagen, dass die Flüchtlinge uns in diesem Sinne missionieren.

Linktipp: 100tage100menschen.de

Am 25. Mai beginnt in Leipzig der 100. Deutsche Katholikentag. Mit 100 Geschichten über Menschen, die mit diesem Ereignis in Berührung kommen werden, stimmt die Internetseite 100tage100menschen.de darauf ein. Jeden Tag erscheint auf der Seite ein neuer Beitrag. Das Interview mit Erzbischof Woelki ist zuerst auf 100tage100menschen.de erschienen.