"Zahlen sprechen eindeutige Sprache"
Frage: Sie sagen, die Art, wie wir kirchliches Leben strukturieren, ist am Ende. Ist das nicht Schwarzmalerei?
Hartmut Niehues: Wenn ich auf die Situation der Priesterseminare blicke, muss ich sagen, dass die Zahlen eine eindeutige Sprache sprechen. Und wenn ich auf die Situation der Gemeinden blicke, was zum Beispiel die Gottesdienstteilnehmerzahlen angeht, sprechen die Zahlen ebenfalls eine eindeutige Sprache. Die Versuche der deutschen Diözesen, mit Veränderungen der Strukturen umzugehen, sind Reaktionen auf diese eindeutigen Tendenzen. Insofern ist das keine Schwarzmalerei, sondern einfach nur ein realistischer Blick. Im Übrigen meine ich nicht, dass die Kirche am Ende ist. Diese Unterscheidung ist mir wichtig.
Frage: Würden Sie also sagen, dass die Bistümer auf die Veränderungen nicht richtig reagieren?
Niehues: Das würde ich so pauschal nicht sagen. Es zeigt sich nur, dass offensichtlich alle nach neuen Wegen suchen. Was aber die richtigen Wege sind, kann ich nicht beurteilen. Es ist nur klar, dass es so wie bisher und in den bisherigen Strukturen nicht weitergeht.
Frage: Die strukturellen Veränderungen hängen oft mit einem veränderten Verhältnis zwischen Priestern und Laien zusammen. Was muss in diesem Bereich geschehen?
Niehues: Dazu möchte ich zwei Dinge sagen: Wir brauchen ein neues Miteinander in der Kirche. Grundlage dafür ist unsere gemeinsame Taufe. Ich mag den Begriff "Laien" nicht, weil er im Deutschen missverständlich ist. Lieber ist mir, von engagierten Getauften zu sprechen. Früher hat man Seelsorge als Versorgung mit Sakramenten verstanden, aber heute versteht man sie viel breiter. Und deshalb ist das auch kein exklusives Feld für Priester und Hauptberufliche mehr. Jeder Getaufte ist heute Seelsorger. Wenn wir als getaufte Menschen das Leben teilen, ist klar, dass wir für uns gegenseitig auch Seelsorger sind. Und zwar nicht als Lückenbüßer, weil es zu wenig Hauptberufliche gibt sondern aufgrund der Taufe.
Die Hauptberuflichen können den Begriff "Seelsorge" auch gar nicht allein ausfüllen. Nehmen Sie etwa einen Pfarrer, der eine Familie bei einem Trauerfall begleitet. Der wird sie einmal vor der Trauerfeier besuchen, da sein und Trost zusprechen, dann bei der Beerdigung selbst und im besten Falle sogar bei einem Besuch nach der Beerdigung. Das sind wichtige Begegnungen, aber das bleiben punktuelle Begegnungen. Was aber durch die Familie, Freunde, Gemeindemitglieder an Begleitung und Trauerarbeit und damit an Seelsorge geleistet wird, geht ja viel weiter. Da können wir als hauptamtliche Seelsorger nicht den Anspruch erheben, dass unsere Arbeit erschöpfend ist. Und der zweite Punkt bezieht sich auf die Glaubenssituation: Ich finde es wichtig, den Menschen zu helfen, die Präsenz Gottes in ihrem Leben wiederzuentdecken. Die Frage ist: Wie können wir das Bewusstsein stärken, dass Gott mir tatsächlich in den Sakramenten begegnet? Wir müssen einerseits an der Gestaltung des sakramentalen Lebens arbeiten, aber auch am Bewusstsein dafür. Beides ist notwendig.
Frage: Was ist strukturell das größere Problem: Der Priestermangel oder der Gläubigenmangel?
Niehues: Ich glaube nicht, dass man das gegeneinander aufrechnen kann. Beide Faktoren sind wichtig und bedingen sich gegenseitig, zeigen aber auch, dass es eine Frage gibt, die dahinter steht. Und das ist die nach dem Glauben.
Frage: Dieses Problem beschreiben Sie durch die Beobachtung, dass viele Menschen gar nicht mehr wahrnehmen würden, dass Gott in ihrem Leben durch die Sakramente wirkt. Konzentriert sich diese Wahrnehmung nicht zu sehr auf die Sakramente und den sakramentalen Dienst des Priesters?
Niehues: Ich sage, dass diese Frage im Raum steht. Ich habe keine empirischen Daten, das ist vor allem ein Eindruck, aus dem sich Fragen ergeben. Rechnen Menschen damit, dass Gott in ihrem Leben handelt? Und rechnen Menschen damit, dass Gott ganz konkret in den Sakramenten der Kirche handelt? Die Antworten auf diese Fragen bleiben nicht ohne Auswirkung auf die Frage nach unserem Verständnis des Dienstes des Priesters.
Woelki: Priester "attraktivster Beruf schlechthin"
Die Berufsaussichten seien rosig, es gebe genügend freie Planstellen, eine gute Bezahlung und selbst die Aufstiegschancen seien super – so wirbt der Kölner Erzbischof Woelki am heutigen Welttag der geistlichen Berufe für den Priesterberuf.Frage: Strukturelle Veränderungen sind nicht Ihr Thema, aber sie haben oft direkten Einfluss auf die Arbeit der Priester. Schreckt der Ausblick auf eine Pfarrei mit mehreren tausend Katholiken nicht möglicherweise doch einige Interessenten ab?
Niehues: Mit Sicherheit gibt es die Sorge vor einer Überforderung. Das erlebe ich immer wieder im Gespräch mit Seminaristen. Umgekehrt erlebe ich aber auch, dass diejenigen, die in den großen Pfarreien tätig sind, zwar Veränderungen im Dienst als Priester feststellen, aber nicht unbedingt unzufriedener sind. Eher umgekehrt. Laut der Seelsorgerstudie aus dem vergangenen Jahr ist der Grad der Zufriedenheit bei solchen Seelsorgern sogar sehr groß. Das heißt nicht, dass ich für möglichst große Einheiten plädiere! (lacht) Man muss sich natürlich fragen, warum diese Leute zufrieden sind. Das sind sicher auch Menschen, die mit dieser Aufgabe gut umgehen können. Da muss man ehrlich fragen, ob das wirklich jeder kann. Wichtig ist also, dass Priester ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt werden.
Frage: Wie wichtig sind Argumente, die nicht direkt mit dem Glauben zusammenhängen, für den Entschluss Priester zu werden? Also Dinge wie das Einkommen, das Ansehen oder die Anerkennung?
Niehues: Es ist immer ein Motivationsbündel, das jemanden dazu veranlasst, über den Priesterberuf nachzudenken. Wir gehen in der Ausbildung so vor, dass wir diese verschiedenen Motivationen erst einmal anschauen. Im nächsten Schritt muss man überlegen, was wirklich trägt und was vielleicht sogar kontraproduktiv ist. Wegen des Einkommens oder des Ansehens sollte niemand Priester werden. Mit Blick auf die Weltkirche ist interessant, dass gerade in Ländern, in denen das Priesteramt nicht mehr die gleiche Anerkennung wie früher genießt, die Zahlen deutlich zurückgehen.
Frage: Sie sagen, dass es volle Seminare vor allem dort gibt, wo das Priestertum mit einem sozialen Aufstieg verbunden ist. Können Sie das konkretisieren?
Niehues: Es gibt eben Länder, in denen für den Kandidaten und seine Familie schon das Studium einen sozialen Aufstieg bedeutet. Und wenn er dann noch Priester wird und ein Amt in der Kirche bekleidet, stößt er in der Familie und der Gesellschaft auf große Anerkennung. Das mag durchaus eine Motivation sein, Priester werden zu wollen.
Frage: Aber ist das ein legitimer Grund, Priester zu werden? Ist es legitim, solche Männer zur Priesterweihe zu führen?
Niehues: Es geht ja für uns Christen um die Nachfolge Jesu. Das ist aber nach den Maßstäben unserer Welt eine Karriere nach unten. Also passt das nicht mit der Suche nach sozialem Aufstieg zusammen.
Frage: Blicken wir auf die Situation in Deutschland: Wer will denn heutzutage noch Priester werden? Sind das die besonders Überzeugten?
Niehues: Das würde ich so nicht sagen. Das sind junge Leute, die in meinen Augen ganz viel Mut haben. Die sich tatsächlich von Gott angesprochen fühlen und sich die Frage stellen: Was könnte Gott mit mir und meinem Leben vorhaben? Die meisten erlebe ich da gar nicht als sofort entschieden. Aber sie haben positive Erfahrungen gemacht im Glauben, oft auch in der Gemeinde. Und aufgrund dessen sind sie für sich zum Entschluss gekommen: "Ich versuche das mal." Es gibt keinen, der hier anklopft und sagt "Ich werde Priester – Punkt", sondern "Ich mache mich auf den Weg und will im Dialog mit Gott und mit der Hilfe der Ausbilder schauen, ob das mein Weg ist." Ich bin im Übrigen froh, dass es immer wieder Mutige gibt, die sich auf den Weg machen. Wir brauchen Priester im besten Sinne des Wortes als Hoffnungsträger – als Träger einer Hoffnung, die von Gott kommt. Und selbst wenn es nur wenige sind: Es kommt auf jeden Einzelnen an.
Frage: Wenn Sie sich so intensiv um die einzelnen Kandidaten kümmern, sorgt dann die niedrige Kandidatenzahl vielleicht sogar für eine besonders hohe Qualität der Ausbildung?
Niehues: Natürlich haben wir heutzutage bessere Möglichkeiten, auf Einzelne einzugehen. Früher sind wir stärker in Gruppen ausgebildet worden. Umgekehrt braucht es aber für die Wachstumsprozesse im Seminar auch die größere Gruppe. Beides ist wichtig.
„Das sind junge Leute, die in meinen Augen ganz viel Mut haben.“
Frage: Sind Sie mit den Jungpriestern nach deren Weihe noch im Kontakt? Fühlen die sich von Ihnen gut auf Dienst und Leben als Priester vorbereitet?
Niehues: Ja, wir begleiten die Kapläne in den ersten vier Jahren in den Gemeinden und sind insofern tatsächlich rege im Austausch. Da bekommen wir entsprechende Rückmeldungen. Wir reflektieren natürlich auch mit den Kandidaten hier im Seminar jedes Semester. Derzeit läuft außerdem eine wissenschaftliche Evaluation der Ausbildung.
Frage: Was ergeben die Rückmeldungen der Jungpriester? Gibt es Dinge, die sie gerne geändert sehen würden?
Niehues: Ich kann von unseren derzeitigen Diakonen erzählen, die an Pfingsten zu Priestern geweiht werden. Nach Aschermittwoch waren die hier im Seminar zu einer Reflexionsrunde über das Gemeindejahr, das sie jetzt hinter sich haben. Einer von ihnen hat ausdrücklich gesagt: Ich habe in meinem Dienst als Diakon in der Gemeinde gemerkt, dass ich im Seminar gut darauf vorbereitet worden bin. Das hört man natürlich als Regens sehr gerne! (lacht) Natürlich gibt es aber immer Bereiche, von denen man sagen muss, dass die Vorbereitung anders oder besser hätte gestaltet werden können.
Frage: An welchen Punkten muss die Priesterausbildung zukünftig verändert und verbessert werden?
Niehues: Wir arbeiten ganz konkret an der Teamfähigkeit. Jeder Priester arbeitet heutzutage in einem Team mit Hauptberuflichen und engagierten Christen aus der Gemeinde. Es ist einfach notwendig, dass dort eine Kultur der Teamarbeit gelebt wird: Gemeinsam Kirche sein. Da sind wir dran.