"Das Glas ist mehr als halbvoll"
Frage: Bischof Wiesemann, Bischof Hein, Zeit für eine ökumenische Bilanz. Wo stehen wir heute?
Wiesemann: Mit einem bekannten Bild, allerdings in abgewandelter Form, könnte man sagen: Das Glas ist viel mehr als halbvoll. Vor allem, wenn wir bedenken, wo wir noch vor wenigen Jahrzehnten standen, als Abgrenzung und Konfrontation das ökumenische Mit- oder besser Nebeneinander beherrschten. Vieles, was früher undenkbar war, ist uns mittlerweile selbstverständlich geworden - wenn ich etwa an die vielen gemeinsamen Gottesdienste, Begegnungen und Initiativen auf den unterschiedlichen Ebenen kirchlichen Lebens denke. Bei allem Verständnis für die drängende Ungeduld, die manche ökumenisch Engagierte umtreibt, sollten wir einerseits das bislang Erreichte nicht klein reden. Andererseits kann man, wie bei allen lebendigen Prozessen, das Zusammenwachsen auch nicht erzwingen.
Hein: Auf jeden Fall sind wir weiter, als viele meinen. Schauen wir auf die Jahre seit 1945, wird man sagen können: Die Ökumene hat in Deutschland, aber auch weltweit, ungemein große Fortschritte gemacht. Gerade in den Kirchengemeinden ist es selbstverständlich geworden, ökumenisch zu denken. Da ist viel zusammen gewachsen! Wichtig ist, dass dieser Prozess weitergeht. Von Stillstand kann keine Rede sein.
Frage: Was sind für Sie die größten Erfolge der vergangenen Jahre im Bemühen um eine Ökumene zwischen Katholiken und Protestanten?
Wiesemann: Ganz aktuell denke ich an die vor kurzer Zeit veröffentlichte Stellungnahme des Päpstlichen Einheitsrates und des Lutherischen Weltbundes "Vom Konflikt zur Gemeinschaft" über ein gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017. Ein weiterer ökumenischer Markstein war die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" im Jahr 1999 mit ihrem Grundkonsens in der Kernfrage der westlichen Kirchenspaltung. Auch die "Magdeburger Tauferklärung" im Jahr 2007 ist hier zu nennen, mit der elf ACK-Kirchen ein starkes missionarisches Zeichen gesetzt haben, sowie die beiden Ökumenischen Kirchentage in Berlin (2003) und in München (2010). Die größten Erfolge sind für mich aber nicht nur die großen "Events" und die Durchbrüche im theologischen Dialog, sondern, dass sich fast überall vor Ort ein gutes und selbstverständliches Miteinander etabliert hat, von dem ich mich bei meinen Besuchen in den Gemeinden immer wieder überzeugen kann.
Hein: Die beiden bisherigen Ökumenischen Kirchentage in Berlin und München waren in der Tat Feste des gemeinsamen Glaubens. Und zum anderen ist es die Fraglosigkeit, mit der wir heute in unseren Kirchen Lieder singen, die aus dem jeweils anderen kirchlichen Umfeld stammen. Die Ökumene des Kirchenlieds sollte nicht unterschätzt werden. Auf der Ebene offizieller Vereinbarungen sind ganz bestimmt die "Charta Oecumenica" aus dem Jahr 2001 und die "Gemeinsame Erklärung von Magdeburg" über die wechselseitige Anerkennung der Taufe aus dem Jahr 2007, die sogar elf Kirchen in Deutschland unterzeichnet haben, wichtige Meilensteine.
Frage: Wo sehen Sie zurzeit in Sachen Ökumene den größten Handlungsbedarf?
Wiesemann: Eine binnenkirchliche Sicht der Ökumene, in die wir immer wieder zu geraten drohen, wie ich meine, gilt es zu durchbrechen. So wichtig die theologisch zu bearbeitenden Fragen nach Kirche, Amt und Abendmahl/Eucharistie sind: Sie dürfen doch nicht den Blick dafür verstellen, dass sich die Zukunft unserer Kirchen nicht an ihnen entscheiden wird, sondern daran, ob es uns gelingt, aus uns herauszugehen, missionarisch zu sein und gestaltend in die Gesellschaft hineinzuwirken. Gerade hier, zum Beispiel im Bereich einer diakonischen Pastoral, gibt es so viele Möglichkeiten gemeinsamen Wirkens, die wir bislang zu wenig ausschöpfen. Papst Franziskus hat uns dazu in den ersten Monaten seines Pontifikats viele wertvolle Impulse gegeben.
Hein: Der ökumenische Elan erlahmt, wenn immer die gleichen Themen, etwa die Amtsfrage, ergebnislos miteinander erörtert werden. Es ist an der Zeit, sich ehrlich zu fragen und miteinander zu verständigen, wo wir in zehn Jahren sein wollen und was wir bis dahin erreicht haben wollen. Wir brauchen klare Visionen. Und wir müssen den offenen Horizont der weltweiten Ökumene stärker in den Blick nehmen.
Frage: Zuweilen ist die Rede von einer "Eiszeit" in der Ökumene. Welche Antwort geben Sie, wenn Sie mit diesem Begriff konfrontiert werden?
Wiesemann: Die Redeweise von einer "Eiszeit" in der Ökumene deckt sich nicht mit dem, was ich als Bischof und als ACK-Vorsitzender in den herzlichen Begegnungen mit Vertretern anderer Kirchen sowie im lebendigen ökumenischen Miteinander in den Gemeinden erlebe. Freilich - in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren gab es auf beiden Seiten manche Verletzungen und Enttäuschungen. Die damit verbundene Erfahrung einer gewissen Ernüchterung ist wohl gemeint, wenn manche von einer ökumenischen Eiszeit sprechen. Deren Sinn liegt aber vielleicht darin, dass uns dadurch deutlicher geworden ist, welche Stolpersteine bis zur vollen kirchlichen Einheit noch aus dem Weg zu räumen sind. Dennoch empfinde ich das Klima zwischen den Kirchen alles andere als frostig.
Hein:Unter dem Pontifikat von Papst Benedikt XVI. gab es unbestreitbar Verhärtungen. Für die Ökumene zwischen der römisch-katholischen und der evangelischen Christenheit waren das - unter dem Strich betrachtet - eher verlorene Jahre. Aber deshalb von "Eiszeit" zu sprechen, ist nicht angemessen. Denn Ökumene ist mehr als die Begegnung von Kirchenrepräsentanten. Sie wächst aus dem Volk Gottes. Und da gibt es viel Wärme!
Frage: Könnte Ökumene in Zeiten zunehmender Säkularisierung ein Ausweg sein, um das Christentun wieder neu und verstärkt in den Fokus der Gesellschaft zu rücken?
Wiesemann: Das Wort "Ausweg" könnte den Anschein erwecken, als müssten wir uns erst dann ökumenisch engagieren, wenn wir als Konfessionen nicht mehr weiter wissen. Das ist mir entschieden zu wenig. Die Einheit der Kirche ist ein kirchlicher Grundauftrag, den uns der Herr selbst gegeben hat, unabhängig davon, wie unser "Standing" in der Gesellschaft ist. Dennoch ist ökumenisches Handeln natürlich umso mehr gefragt, je größer die Kluft zwischen der christlichen Botschaft und einer immer säkulareren Gesellschaft wird. Und unser Zeugnis wird umso glaubhafter und wirksamer sein, je mehr wir unseren Glauben und unsere Hoffnung mit einer Stimme und "Hand in Hand" bezeugen.
Hein: Nach dem Johannesevangelium bittet Jesus um die Einheit, "damit die Welt glaubt". Ein gemeinsames Zeugnis wirkt immer überzeugend. Und wir tun gut daran, wo immer es geht, gemeinsam unsere Anliegen vorzubringen - in Deutschland etwa im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik oder der Migrationspolitik, um nur einige Beispiele zu nennen. Andererseits ist nicht zu leugnen, dass sich unsere Kirchen in manchen Fragen, die das gesellschaftliche Leben betreffen, unterscheiden. Ökumenischer Geist lebt auch dort, wo man sich diese Unterschiedlichkeit in Freiheit zugesteht.
Frage: Wie könnte die katholische Kirche die evangelische Kirche bereichern - und umgekehrt?
Wiesemann: Eine solche gegenseitige Bereicherung ist ja schon in vielfacher Weise geschehen: Wir Katholiken haben durch die Begegnung mit evangelischen Christen die Bedeutung des Wortes Gottes und das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen wiederentdeckt. Umgekehrt ist in den reformatorischen Kirchen eine Neubesinnung auf die sakramentale Dimension der Kirche zu beobachten, die sich in einer häufigeren Feier des Abendmahls oder einer Wiederbelebung der Beichte zeigt. Und dieser Prozess des wechselseitigen Lernens wird sicher weitergehen. Als ACK-Bundesvorsitzender ist es mir im Übrigen ein Anliegen zu betonen, dass die beiden großen Kirchen auch von der Orthodoxie und von den Freikirchen vieles lernen können und umgekehrt.
Hein: Mich beeindruckt an der römisch-katholischen Kirche die Dimension der "Weltkirche" . Da denken wir in evangelischen "Landeskirchen" oft zu partikular. Und die Sinnlichkeit katholischer Gottesdienste kann auch für uns attraktiv sein. Umgekehrt könnte es die römisch-katholische Kirche bereichern, die Chancen evangelisch begründeter Pluralität zu entdecken und damit der Freiheit des Gewissens, das sich allein an Gottes Wort gebunden weiß, mehr Raum zu geben.
Frage: Im Jahr 2017 steht das Reformationsjubiläum auf dem Programm: Könnte Ihrer Einschätzung nach bis dahin das gemeinsame Abendmahl möglich sein?
Wiesemann: Ein Durchbruch in der Frage nach einer gemeinsamen Feier der Eucharistie beziehungsweise des Abendmahls steht sicher nicht unmittelbar bevor. Für die katholische Kirche, wie auch für die orthodoxe Kirche, geht es dabei in erster Linie nicht um den Ausschluss bestimmter Personen oder Gemeinschaften vom Kommunionempfang. Sondern es geht darum, dass für uns die Eucharistie eine kirchenbildende Kraft hat und deshalb Kirchen- und Eucharistiegemeinschaft untrennbar zusammengehören. Gerade angesichts der leidvollen Situation, in der sich viele konfessionsverbindende Paare und Familien befinden, dürfen wir aber nicht nachlassen, uns mit aller Kraft für die sichtbare Einheit der Kirche einzusetzen, um so eines Tages unseren Glauben an den einen Herrn an einem Tisch feiern zu können.
Hein: Aus evangelischer Perspektive gibt es kein Hindernis. Aber realistisch betrachtet rechne ich nicht damit. Dennoch: Wunder sind nie ausgeschlossen. Und in der Ökumene schon gar nicht!