Von Kreuzen, Rissen und kahlen Wänden
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Während heute Heerscharen von treuen Staatsdienern mit Hammer, Nagel und Kreuz aus der bayerischen Staatskanzlei in den ganzen Freistaat ausströmen, haben im heute benachbarten Bundesland in der Mitte des letzten Jahrhunderts Beamte das Kreuz gegen Ulbricht, Stalin und Co. getauscht. Natürlich kann man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen, erst recht nicht eine Demokratie mit einer Diktatur. Und trotzdem verbindet beide, dass sie als Symbole auf Größeres verweisen wollen, Herkunft legitimieren und "von oben" gewünscht sind. Es bleibt abzuwarten, ob die bayerische Gesellschaft sich angesichts der neuen, täglichen Begegnung mit dem Kreuz auf die christlichen Werte besinnt oder das Kruzifix in dieser Alltäglichkeit als Wandschmuck untergeht. Ulbricht und Stalin im Bilderrahmen haben jedenfalls nicht die gewünschte Identifikation erreicht.
Bei aller Häme über die Entscheidung bietet aber die Diskussion der letzten Wochen auch eine Chance zum empathischen Perspektivwechsel – nämlich nicht zugunsten der Frage, wie viel Religion sich der Staat bemächtigen darf, sondern bei wie vielen Entscheidungen und Haltungen den Einzelnen wirklich der Glaube an Jesus, den Christus, trägt. Damit wird das Kreuz in der Amtsstube von nebenan zum Stachel für Christen und eine Chance für die Zukunft der Gesellschaft.
Das Land, in dem über 40 Jahre Bilder von Genossen das Kreuz ersetzten, hat heute kahle Wände. Es wurde versucht, sie mit Kühlschränken, Urlaubsreisen und Deutschlandfahnen zu verhängen. Geblieben sind Risse – nicht nur auf den kahlen Stellen, sondern in Familien und weiten Teilen der Gesellschaft. Scheinbar ist das Fundament abhanden gekommen. Wenn das Kreuz jemals wieder in diesen Rissen mit seinem Nagel einen Halt findet, sollte es die Wenigen daran erinnern, von ihrer christlichen Hoffnung zu sprechen, die sie trägt. Und dort, wo es – noch – auf weißen Wänden hält, zum mutigen Zeugnis für eine Botschaft der Hoffnung auffordern. Dann ist das Kreuz weder rückwärtsgewandte Folklore noch probates Wahlkampfmittel, sondern Ermahnung, die eigene, zeitlich begrenzte Freiheit verantwortlich zu gestalten.