Bibeltexte regen in Musik zum Nachdenken an

Wie die Offenbarung den Heavy Metal prägt

Veröffentlicht am 28.07.2024 um 11:45 Uhr – Von Fabian Peltsch – Lesedauer: 

Patmos ‐ Die Apokalypse ist ein Buch voller Metaphern und irritierender Details. Gerade dadurch ist es aber auch eine Inspiration für die Rockmusik geworden – und spielt so bis heute Bibeltexte in die Münder der Musikfans.

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Patmos ist eine verschlafene Insel in der Ägäis. Auf der einspurigen Straße, mit der man kaum eine halbe Stunde von der einen Seite bis zur anderen braucht, fahren kaum Autos. In der Mittagshitze haben die Einheimischen die Jalousien heruntergelassen. Nur wenige Touristen flanieren durch die Gassen, von denen einzig die Straßenkatzen Notiz zu nehmen scheinen. Patmos hat weder Partystrände noch Luxus-Clubs zu bieten. Sein einziger Selling Point: Es ist der Ort, wo Johannes, der "Seher von Patmos", die nach ihm benannte Offenbarung empfangen haben soll – bildgewaltige Visionen vom Ende der Welt und dem Beginn eines neuen Zeitalters ohne Tod und Leid, wenn "Gott inmitten seines Volkes wohnt".

Die Höhle, in der der Prophet vor seinem inneren Auge die Apokalypse geschaut haben soll, ist heute ein Wallfahrtsort. Morgens und nachmittags mühen sich Busse die steilen Straßen hinauf – "Apocalypse Travel" heißt einer der beliebtesten Reiseanbieter. Orthodoxe Christen auf Pilgerreise, aber auch Touristen aus Europa, den USA und Asien stehen Schlange vor der Grotte, an die heute eine kleine Kapelle angeschlossen ist. Ein Priester im Gewand und mit der für orthodoxe Geistliche typischen schwarzen Kopfbedeckung mahnt die Besucher zur Ruhe und erinnert an das Fotografie-Verbot. Unter ihnen sind auch einige, die nicht aussehen wie Touristen oder Pilger, die Höhle aber mindestens so ehrfürchtige betreten. Sie tragen schwarze T-Shirts mit stacheligen Logos und schwere Stiefel. Es sind Heavy-Metal-Fans, die einmal sehen wollen, wo eine der wichtigsten Inspirationsquellen ihrer Szene ihren Ursprung hat. 

Die Apokalypse, (griech. Apokalypsis, "etwas offenbaren"), ist das letzte Buch der Bibel und jener Teil, der popkulturell noch immer die weitesten Kreise zieht. In visionären Bildern schildert es das Ende der Welt in einem dramatischen Kampf zwischen Gut und Böse, das Gericht Gottes und die endgültige Vernichtung des Bösen. Einige Bilder, die dort auftauchen, sind bis heute im allgemeinen Gedächtnis: Das Monster mit der Zahl 666, die apokalyptischen Reiter, das Buch mit sieben Siegeln. Dazu kommen ein Drache mit sieben Köpfen und zehn Hörnern, der ein Neugeborenes verschlingen will, der Sieg des Erzengels Michael über diesen Drachen und die Hure Babylon, weiterhin Monsterheuschrecken, Feuersbrünste und der Zusammenbruch des Firmaments. Wie eine Art Urzelle von Fantasy und Horror hat das einzige prophetische Buch des Neuen Testaments unzählige Filme, Bücher und Rocksongs beeinflusst, wobei bei Letzteren die Formel gilt: Umso härter die Gitarren, umso höher ist die Zahl der Verweise.

Bild: ©katholisch.de/Peltsch

Der Reisetourismus auf Patmos treibt skurrile Blüten.

Iron Maiden, eine der langlebigsten Bands des Heavy-Metal-Genres, zitieren in ihrem 1983 veröffentlichten Song "The Number Of The Beast" gleich einen ganzen Absatz aus der Offenbarung: "Weh aber euch, Land und Meer! / Denn der Teufel ist zu euch hinabgekommen; seine Wut ist groß." (Offb 12,12) Bei Live-Auftritten jubeln die Fans, sobald die ersten Worte des Heavy-Metal-Klassikers anklingen und sprechen den Text auswendig mit, das Vaterunser würden die meisten aber nicht fehlerfrei hinbekommen. Auf seine Art ist kein anderer populärer Musikstil so bibelfest wie der Heavy Metal in all seinen Spielarten. Die Liste der Gruppen und Musikstücke, die sich in Namen, Symbolik, Texten oder Album-Artwork direkt auf das letzte Buch beziehen, ist lang: Revelation ("Offenbarung"), Armagedon (der Ort der entscheidenden Schlacht), Lamb Of God (Das Lamm Gottes), The Four Horsemen (Metallica, die vier apokalyptischen Reiter sind ein Kernmotiv der Offenbarung), "Seven Seals" (Testament, bezieht sich auf eine Buchrolle mit sieben Siegeln, die durch das Lamm Gottes geöffnet werden), "Seven Trumpets" (Manilla Road, in der Offenbarung werden sieben Posaunen geblasen, durch eine davon wird etwa ein Drittel der Welt verbrannt), Seven Churches (Possessed, die sieben Sendschreiben zu Beginn des Buches). Die Welt des Heavy Metal ist durchsetzt mit biblischem Offenbarungsvokabular.

Nicht nur ein adoleszenter Flirt

Dabei ist die Auseinandersetzung mit dem jüngsten Tag nicht nur ein adoleszenter Flirt mit dunklen Mächten. Viele Bands begegnen dem Material mit Ehrfurcht. Zwar ist der Ton oft heroisch, wenn von gefallenen Engeln die Rede ist, und gewaltverherrlichend, wenn Schlachten vertont werden. Gerne wird im nächsten Atemzug gegen die Kirche gewettert, gerade bei US-Bands sind Freikirchen und TV-Prediger regelmäßig Angriffsziel. Aber Ablehnung ist nicht Gleichgültigkeit: Tatsächlich sind einige der offenbarungsverrücktesten Metal-Bands explizit gläubig. Die Band GOD aus Israel hat 2020 ein ausuferndes Konzeptalbum über die Apokalypse veröffentlicht. "IV – Revelation", so der Titel des Albums, ist ein zerrüttendes, technisch versiertes Death-Metal-Gewitter, das mit dem Stück "New Heaven, New Earth, New Jerusalem" jedoch versöhnlich ausklingt. Es soll eine akustische Ahnung des Friedens sein, der über die Welt kommt, wenn die letzten Gefechte ausgetragen und ihre Früchte im neuen Jerusalem aufgegangen sind. Die Band Savior Machine aus Kalifornien hat mit "Legend I-III" gleich eine Album-Trilogie zu dem Thema veröffentlicht. Die fünfstündige Offenbarungs-Oper ist als "unoffizieller Soundtrack für das Ende der Welt" zu hören, erklärte Eric Clayton, der exzentrische Kopf hinter dem Projekt, beim Erscheinen des ersten Teils Mitte der 1990er. "Inspiriert von der großartigsten Geschichte, die jemals erzählt wurde" heißt es auf der letzten Seite des Booklets, das wie auch GOD minutiös alle zitierten Bibelstellen aufführt. Dazu gibt es Ausschnitte apokalyptischer Gemälde von Hieronymus Bosch und Lucas Cranach dem Älteren aus der Wende vom 15. auf das 16. Jahrhundert– ein episches Triptychon, das in der Metal-Szene schon bei Erscheinen für seine Ambition bewundert, aber auch mit Kopfschütteln quittiert wurde. "Ich bin bei euch, ich komme bald. Das Himmelreich ist gewiss nahe", singt der ausgebildete Tenor in "The Lamb", begleitet von eigens angeheuerten Chören der Würzburger St. Stephans-Kirche.  Die Perspektive bleibt trotz dunkel dräuender Dramatik hoffnungsvoll. Die Machtübernahme des Teufels ist auch hier nur vorübergehend.

Bild: ©katholisch.de/Peltsch

Zur Apokalypse? Da entlang!

Diesen Ansatz haben die Musiker interessanterweise mit Joseph Ratzinger gemein, der Heavy Metal in seiner Zeit als Glaubenspräfekt als Teufelszeug abkanzelte, die Apokalypse in seinen Predigten aber ein "Durchgangstadium zur Glückseligkeit" nannte. Stilistisch mag der Heavy Metal eher das unheilvolle Ende umkreisen und nicht die hoffnungsvolle Wiederkunft des Herrn. Sehr biblisch ist aber der aktuelle Zeitbezug. Schon bei Johannes, der den Text vermutlich um das Jahr 90 n. Chr. schrieb, waren die apokalyptischen Bilder aller Wahrscheinlichkeit nach ein kritischer Kommentar auf das römische Reich und die Verfolgung der Christen, die damals eine bedrängte Minderheit – beziehungsweise, je nach Blickwinkel – eine als radikal empfundene Sekte waren. Johannes Heimat Judäa war nach einem Aufstand von römischen Soldaten ausgehungert und verwüstet worden, so wie Jesus es vorausgesehen hatte: " Denn jene Tage werden eine Drangsal sein, wie es sie nie gegeben hat, von Anfang der Schöpfung, die Gott geschaffen hat, bis heute, und wie es auch keine mehr geben wird." (Mk 13,19). Wie viele der zweiten Generation von Jesusnachfolgern erwartete Johannes schon zu Lebzeiten das Weltgericht und den Anbruch des Reiches Gottes. Er sah, wie das römische Reich weiter expandierte. Seinen Götzenbildern konnte man selbst auf der abgelegenen Insel Patmos nicht entgehen. Johannes' Kernsymbole, der Drache, das Tier oder die Hure Babylon, stehen für das monströse Gesicht des Imperiums gegenüber den Unterdrückten. Die Zahl 666 steht laut Historikern für Kaiser Nero, der die Anhänger Jesu angeblich als lebendige Fackeln in seinen Gärten aufstellte. Es ist ein Schrei nach Gerechtigkeit, der bei Johannes in Bildern eines himmlischen Gemetzels gipfelt. Diese Bilder bewegen auch die Heavy-Metal-Anhänger heute. Viele von ihnen sehen die heutige Welt als im Untergang begriffen. So prangert die Gruppe Slayer im Song "The Skeletons of Society" eine moralisch heruntergewirtschaftete Gesellschaft an, deren Ende "ganz plötzlich kam, mit brennenden, richtenden Winden":

Die Menschheit wird wahnsinnig
Schatten des Todes sind alles, was ich sehe
Skelette der Gesellschaft

Den Teufel an die Wand zu malen – oder ihn in diesem Fall mit Gitarrenriffs heraufzubeschwören – ist ein erster Schritt zur Läuterung. Die Hörenden werden zwischen den Zeilen aufgefordert, mit Bedrohungen wie der ökologischen Zerstörung oder Verschiebungen der globalen Weltordnung ins Gericht zu gehen – und sich gleichzeitig auf das Schrecklichste gefasst zu machen. Der Kulturwissenschaftler Jörg Scheller spricht in diesem Zusammenhang von "ästhetischem Resilienztraining". Heavy Metal erlebte nicht zufällig in den 80er-Jahren seinen ersten Höhepunkt. Damals war die atomare Bedrohung allgegenwärtig, den Schlagabtausch der Supermächte USA und UDSSR besangen etwa Iron Maiden 1984 in "Two Minutes to Midnight":

Wir ölen das Maul der Kriegsmaschine
und füttern es mit unseren Babys

Mit dem Stilmittel des Heavy Metal ließ sich die Dringlichkeit zum Handeln besser formulieren als es damals populären, friedensbewegten Künstlern wie BAP, Udo Lindenberg ("Wozu sind Kriege da", 1981), Peter Maffay oder Konstantin Wecker gelang.

Eine bewahrende Musik

Heavy Metal ist in diesem Sinne eine Musik, die bewahren möchte. Seine Hörer sind in der Masse längst nicht mehr die Nonkonformisten und Rebellen von einst, auch wenn sich die Szenegrößen nach wie vor gerne als solche inszenieren. Ein Blick nach Wacken, mit über 80.000 Besuchern das größte Metal-Festival der Welt, zeigt: Die Metal-Gemeinschaft ist zum großen Teil friedlich, freundlich, bürgerlich. Der amerikanische Industrial-Schock-Rocker Marilyn Manson nannte sich in den 90er-Jahren zwar noch selbstgewiss "Antichrist Superstar". Satanismus als Ideologie spielte dabei jedoch weit weniger eine Rolle, als Kritiker wie Ratzinger meinten. Viele satanisch auftretende Bands von Black Sabbath bis Slayer haben über die Jahre immer wieder betont, dass die Teufelsanbetung vor allem ein effektives Werkzeug war, um zu provozieren und aufzufallen – und die Gesellschaftskritik so zu untermauern.

Während der Satanismus im Metal heute einigermaßen out ist, bleibt das himmlische Gemetzel der Offenbarung als Thema zeitlos und jederzeit reaktivierbar. Ein Grund dafür dürfte auch sein, dass in der bildgewaltigen Rachefantasie immer auch eine trotzige "Ihr werdet uns nicht besiegen"-Haltung mitschwingt, die auch die frühen Christen auszeichnete. Die Pilger von Patmos stecken beim Verlassen der Höhle ihre Stöpsel zurück in die Ohren. Statt dem Donnern von Posaunen ertönt dort sicherlich weiter das Stakkato brachialer Trommelwirbel und himmelhoch aufschreiender Gitarren. Sie sind, zumindest stilistisch, für den jüngsten Tag gewappnet.

Von Fabian Peltsch