Belgischer Oberhirte gab im Juli Amt des Missbrauchsbeauftragten ab

Bischof Bonny: "Aufarbeitung ist Last für Priester und Bischöfe"

Veröffentlicht am 12.09.2024 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 

Antwerpen ‐ Emotionale Belastung und gesundheitliche Probleme: Das waren im Juli die Gründe für den Rücktritt von Bischof Johan Bonny als Missbrauchsbeauftragter der Belgischen Bischofskonferenz. Im Interview mit katholisch.de nennt der Oberhirte von Antwerpen aber noch weitere Punkte.

  • Teilen:

Laut des Berichts der im vergangenen November im belgischen Parlament eingesetzten Kommission zur Untersuchung der kirchlichen Missbrauchsfälle gibt es 1.400 Betroffene sexuellen Missbrauchs in der Kirche in Flandern. Die meisten Fälle sind verjährt, sagt Bischof Johan Bonny aus Antwerpen. Er war 15 Jahre lang für die Aufarbeitung der Missbrauchskrise in Belgien zuständig und hat diese Aufgabe im Juli abgegeben. Warum der Bischof nicht mehr weitermachen wollte und was er Papst Franziskus bei dessen voraussichtlichem Besuch in Belgien sagen möchte, darüber spricht Bonny im Interview mit katholisch.de.  

Frage: Bischof Bonny, Sie haben erst im Juli das Amt des Missbrauchsbeauftragten in der Belgischen Bischofskonferenz aufgegeben. Sie gaben gesundheitliche und emotionale Gründe dafür an. Woran lag es tatsächlich?

Bonny: Es war eine Mischung aus beidem. Ich hatte diese Aufgabe 15 Jahre lang inne und sie hat einen Großteil meiner Arbeitszeit eingenommen, auch wochenends und abends war ich damit beschäftigt. Mir blieb daneben kaum noch Zeit für andere Themen. Daher wurde es immer beschwerlicher für mich und zu einer emotionalen Last, die ich nicht mehr tragen konnte. Mir wurde das alles einfach zu viel. Ich habe ein starkes Herz, aber ich merkte, es wird schwächer, wenn ich immer wieder dieses schwere und schwierige Thema an mich herankommen lasse. Antwerpen ist die größte Diözese in Flandern und ich hätte mir mehr Unterstützung für diese zusätzliche Aufgabe gewünscht.

Frage: Sie wollten einen Weihbischof an Ihrer Seite haben, der Sie in der Aufarbeitung der Missbrauchskrise unterstützen sollte?

Bonny: Richtig, das hatte ich als Wunsch so formuliert. Ich hatte im letzten Herbst einen Brief an Papst Franziskus geschickt. Erst hatte ich darum gebeten, dass ich mich ganz um das Thema Missbrauch kümmern möchte und die anderen Aufgaben als Diözesanbischof abgeben werde, also dort aufhöre. Aber das durfte ich nicht, weil mein Bistum mich weiterhin brauchte. Also habe ich versucht, aus Rom die Erlaubnis zu bekommen, dass mir zur Unterstützung ein Weihbischof an die Seite gestellt wird. Mit diesem hätte ich dann die Aufgaben in der Diözese und in der Bischofskonferenz teilen können. Aber das war nicht möglich. Daraufhin habe ich drei Aufgaben innerhalb der Bischofskonferenz zurückgegeben. Das war meine Zuständigkeit für das Thema Missbrauch, dann alles, was mit den politischen Beziehungen zwischen der Belgischen Bischofskonferenz und der flämischen beziehungsweise föderalen Regierung zu tun hat und auch noch den Bereich der katholischen Bildung und die Beziehung zur katholischen Universität Leuven. Diese Aufgaben werden jetzt neu besetzt. Priorität für mich hat nun mein eigenes Bistum, weil ich ja zuallererst Diözesanbischof bin. Ich werde nächstes Jahr 70 Jahre alt. Ich hätte nicht mehr so weiter machen können, auch wenn ich es gewollt hätte. Außerdem litt meine eigene Spiritualität sehr darunter. Ich hatte mir immer eine andere Vision von Kirche erträumt.

Frage: Wie meinen Sie das?

Bonny: Ich bin Priester geworden, um für das Reich Gottes zu arbeiten, um das Evangelium zu predigen und den Menschen die Frohe Botschaft zu bringen. Als ich ins Priesterseminar eingetreten bin, das war 1973, hatte ich keine Ahnung von dieser Lawine der Missbrauchskrise, die auf uns als Kirche und auf mich als Bischof zurollen würde. Damals als junger Priester träumte ich von einer warmen und transparenten Kirche. Für die wollte ich arbeiten. Der Missbrauch steht dieser Vorstellung diametral entgegen, er ist ein Gegenzeugnis davon. Es sind schwere Zeiten, die die Kirche aufgrund der Missbrauchskrise gerade durchmacht. Sie hat vielen Menschen in der Kirche, auch den Mitarbeitenden, das Vertrauen in sie genommen. Viele sind von der Kirche enttäuscht.

Frage: Wovon sind Sie enttäuscht?

Bonny: Ich bin enttäuscht, weil Bischöfe vor mir zu wenig für Betroffene von sexuellem Missbrauch getan haben. Sie haben das Problem nicht angefasst und sind nicht angemessen damit umgegangen. Wir bezahlen jetzt den Preis dafür, was Bischöfe und auch Päpste in den vergangenen Jahrzehnten nicht gut gemacht haben. Das ist eine riesige Belastung für die jetzige Generation in der Kirche. Auch die jungen Priester belastet das enorm, denn sie müssen diese Probleme nun tragen und lösen. Es ist ein schwieriges Erbe für sie, denn wir wissen aktuell, dass die meisten Betroffenen von sexuellem Missbrauch in der belgischen Kirche in den 1960er bis 1980er Jahren lebten.

Bild: ©katholisch.de/ msp

Der Kirchturm der Liebfrauenkathedrale in Antwerpen im Nebel. Die Aufarbeitung der Missbrauchskrise geht in Belgien nur schleppend voran.

Frage: Wie erging es Ihnen mit dem Fall des früheren Brügger Bischofs, Roger Vangheluwe, der seine Neffen über Jahre hinweg sexuell missbrauchte und es auch eingestand?

Bonny: Diese Geschichte hat mich sehr mitgenommen. Der Missbrauch durch einen Bischof ist besonders schrecklich. Vangheluwe hat sich an seinen Neffen zwölf Jahre lang vergangen. Vangheluwe ist nicht mehr im Amt, er wurde aus dem Klerikerstand entlassen. So jemand kann nicht mehr glaubwürdig Priester sein. Er hielt sich nach seiner Verurteilung länger in einer Abtei in Frankreich auf. Wo er jetzt ist, weiß ich nicht. Missbrauch kann überall auftauchen, unter neuen Formen oder Umständen. Deswegen braucht es viel Aufmerksamkeit, dass so etwas nicht mehr passieren kann. Es bleibt aber immer ein Restrisiko bestehen, selbst wenn ehemalige Täter sich an einem anderen Ort außerhalb der Gemeinde oder der Jugendarbeit aufhalten. Hinzu kommt noch ein besonderes Risiko: wenn ein ehemaliger Täter aus dem Klerikerstand entlassen wird, verschwindet er zugleich aus dem Zuständigkeitsbereich des Bistums und des Bischofs. Dann ist er Laie und wieder normaler Bürger der Gesellschaft. Die muss ihn dann weiter begleiten oder kontrollieren.

Frage: Was haben Sie für Betroffene in der belgischen Kirche erreicht in den letzten 15 Jahren?

Bonny: Es geht immer erst um das Anerkennen ihrer Leiden und Verletzungen. Wir bieten den betroffenen Menschen spirituelle, psychologische und finanzielle Hilfen an. Für die Ausgleichszahlungen haben wir mit dem belgischen Parlament ein Schema entworfen. Dort unterscheiden wir die Fälle nach Kategorien und Schweregrad des Missbrauchs. Wir zahlen die Entschädigungen nach diesen Vorgaben. Wenn der beschuldigte Täter zum Beispiel einer Ordensgemeinschaft angehört, dann kommt diese selbst für die Kosten auf. Wenn ein Diözesanpriester der Täter war, dann bezahlt das Bistum. Wenn der beschuldigte oder verurteilte Täter noch lebt, dann ersuchen wir ihn selbst, sich an den Kosten zu beteiligen. In Belgien gibt es keine Kirchensteuer. Daher ist es schwierig für uns, das Geld aufzubringen. Aber wir möchten nicht, dass die Gläubigen für diese Kosten aufkommen müssen. Mit dem Geld der Gemeinden und Pfarreien werden Schulen, Krankenhäuser und Jugendeinrichtungen sowie deren Verwaltung bezahlt. Wir brauchen viel Geld für die Ausgleichszahlungen von Missbrauchsbetroffenen. Doch bis jetzt ist es gelungen, sie zu bezahlen. Wir arbeiten auch mit der Stiftung Dignity zusammen, die Entschädigungszahlungen an Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kirche leistet. Viele Betroffene brauchen aber mehr als nur eine einmalige Zahlung oder kurzfristige Hilfsangebote. Manche brauchen ihr Leben lang Unterstützung durch Therapien oder Begleitung. Aber das betrifft alle Opfer von sexuellem Missbrauch. Diese Menschen müssen, wenn sie den Missbrauch überlebt haben, mit den Folgen davon leben. Wir als kirchliche Verantwortungsträger müssen alles tun, um den Opfern zu helfen. Daher frage ich mich immer wieder: Was können wir für diese vielen Opfer tun – egal ob sie in der Kirche oder woanders Schaden durch Missbrauch erlitten haben. Und was brauchen sie?

Frage: Werden Sie weiterhin für die Betroffenen da sein – auch nachdem Sie das Amt abgegeben haben?

Bonny: Ja, sicher, ich bleibe weiterhin Bischof für alle Betroffenen sexuellen Missbrauchs in meiner Diözese. Ich habe versprochen, dass ich mir mindestens einen halben Tag in der Woche regelmäßig Zeit nehme für das Gespräch mit Betroffenen. Viele Betroffene haben versöhnt auf meinen Rücktritt reagiert. Wir bleiben in Kontakt, das habe ich ihnen versprochen. Ich werde ihnen weiterhin meine Stimme geben. Vielleicht wird es jetzt sogar besser, weil ich mich freier fühlen werde, zu sagen oder zu tun, was ich für notwendig halte. Es wird inzwischen viel für die Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch in der belgischen Kirche geleistet. Doch es muss noch einiges mehr getan werden. Die gesellschaftliche Aufarbeitung geht in Belgien nur schleppend voran. Das ist ärgerlich.

Frage: Im September wird Papst Franziskus voraussichtlich nach Belgien reisen. Werden Sie ihn treffen?

Bonny: Ja, ich werde ihn treffen, zusammen mit den anderen Bischöfen. Es wird ein Treffen mit dem Papst und 15 Betroffenen sexuellen Missbrauchs geben. Es ist wichtig, dass sie persönlich mit dem Papst sprechen können und dass er ihnen persönlich zuhört. Ich finde, das ist ein wichtiges Zeichen für die Kirche. Ich werde dem Papst aber auch sagen, was für eine große Last die Aufarbeitung der Missbrauchskrise für die heutigen Priester und Bischöfe ist. Denn sie müssen Lasten tragen, die schon längst hätten aufgearbeitet werden müssen, auch durch ihre Vorgänger. Es ist eine schwierige Etappe für die Kirche von heute, aber ich denke, es ist entscheidend für die Glaubwürdigkeit der Kirche und das Vertrauen der Menschen in uns. Ich glaube an unsere Zukunft, weil ich an Jesus glaube.

Von Madeleine Spendier