"Unser Führer ist Christus"
Den Arbeitersohn Innitzer, 1875 in Neugeschrei im böhmischen Erzgebirge geboren, zog es wie so viele Sudetendeutsche um die Jahrhundertwende nach Wien, wo er eine Universitätskarriere als Neutestamentler machte. Nach einem kurzen, überraschenden Intermezzo als Bundessozialminister wurde Innitzer 1932, mitten in einer tiefen Staats- und Demokratiekrise, zum Wiener Erzbischof und damit zum führenden Mann der Kirche ernannt.
War es die Sehnsucht des Sudetendeutschen nach Erfüllung nationaler Wunschträume? War es politische Naivität, der Jubel der Massen oder die Einflüsterung national gesinnter Kirchenkreise, die Innitzer veranlassten, Hitler schon kurz nach dem Einmarsch am 15. März 1938 in seinem Wiener Hotel aufzusuchen?
Bischöfe stimmten dem Anschluss zu
Über dieses Gespräch im "Imperial" ist viel spekuliert worden. In den 80er Jahren wurde ein Protokoll des bischöflichen Sekretärs Jauner-Schroffenegg veröffentlicht, das den Kardinal-Fehler zunächst darauf begrenzt: Innitzer versicherte Hitler seiner Loyalität, sofern, wie der „Führer“ vage zusagte, "der Kirche die in den Konkordaten verbriefte Freiheit gewährt" bleibe. In den schriftlichen Äußerungen der folgenden Tage allerdings schwenkte Innitzer ganz auf den Kurs der neuen Machthaber ein, erließ sogar Richtlinien, die ein Aufgehen der katholischen Jugendorganisationen in der Hitlerjugend vorbereiten sollten.
Noch im November 1937 hatten Österreichs Bischöfe in einer Solidaritätsadresse an den deutschen Episkopat die NS-Kirchenpolitik verurteilt. Nun knickte Innitzer unter dem massiven Druck der National-Katholiken und des Österreich-Beauftragten Hitlers, Josef Bürckel, bei der Formulierung einer Loyalitätsbekundung für die Nationalsozialisten ein. Die von den Bischöfen verfasste Version wurde als zu lang abgelehnt, und der Kardinal segnete eine Fassung ab, die für die Volksabstimmung über den "Anschluss" Österreichs zum unbezahlbaren NS-Propagandainstrument wurde: Am 18. März sprachen die Bischöfe dem Regime Anerkennung für seine Leistungen aus und empfahlen öffentlich, dem "Anschluss" zuzustimmen.
Das handschriftliche "... und Heil Hitler", das Innitzer unter zwei Briefe an Bürckel setzte, hat seine Argumentationsnöte gegenüber Rom sicher nicht verringert. Papst Pius XI. zitierte den Kardinal in den Vatikan, wo er eine Ergänzung der März-Erklärung unterzeichnen musste. Allerdings stand diesem Quasi-Widerruf, der im "Osservatore Romano" veröffentlicht wurde, kein ähnlicher publizistischer Raum zur Verfügung wie der NS-Propaganda. So existierten von da an sozusagen zwei Innitzers: der geschmähte NS-Kollaborateur und der Kirchenmann in Opposition zum Regime.
Öffentlich bekannt wurde dieser andere Innitzer am 7. Oktober 1938, als sich im Stephansdom eine Andacht spontan zur Protestkundgebung gegen den Nationalsozialismus entwickelte. Mit 2.000 Jugendlichen hatte man gerechnet; es kamen 6.000. Der Kardinal entschloss sich zu einer spontanen Predigt. Der Schlüsselsatz: "Unser Führer ist Christus." Auch den NS-Slogan "KdF - Kraft durch Freude" deutete er als ein ursprünglich biblisch-jüdisches Wort um - eine Herausforderung an das Regime.
"Wir wollen unseren Bischof sehen!"
Euphorisch zogen die Jugendlichen danach zum Erzbischöflichen Palais. Die Rufe "Wir wollen unseren Bischof sehen!" und "Bischof befiehl, wir folgen dir!" entgingen den Nationalsozialisten nicht: Einige Jugendliche wurden noch am selben Abend verhaftet. Fünf Katholiken gingen im Zuge dieser Ereignisse sogar ins KZ; die SS-Terminologie nannte sie die "Innitzer-Gardisten". Nur zwei von ihnen überlebten.
Am Tag darauf kam die Vergeltung: Etwa 100 Hitler-Jungen stürmten das Erzbischöfliche Palais und schlugen alles kurz und klein. Mitarbeiter des Kardinals wurden verprügelt, einer gar aus dem Fenster geworfen.Spätestens jetzt wurde auch die österreichische Kirche voll von der NS-Unterdrückung getroffen: Auflösung der Vereine, Einzug ihres Vermögens, Gleichschaltung der Presse, Verdrängung des Religionsunterrichts.
In einem Hirtenbrief vom September 1941, der freilich nicht verlesen werden durfte, erteilte der Bibelwissenschaftler Innitzer den NS-Rassegesetzen und dem Zwang zum Tragen des Judensterns eine deutliche Absage. Im eigenen Haus versuchte er, Juden vor der Verfolgung zu retten.
In der schweren Zeit nach dem Krieg schätzten die Wiener ihren Kardinal als beliebten und volkstümlichen Seelsorger. Für seine Beurteilung durch die Nachwelt sind jedoch bis heute die Tage des "Anschlusses" prägend geblieben. Innitzer starb 1955; unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde er im Stephansdom beigesetzt. Für eine offene Auseinandersetzung mit seiner unglücklichen Rolle im März1938 war es in den 50er Jahren noch zu früh. Die Tagespresse ging darüber hinweg.
Von Alexander Brüggemann (KNA)