"Was müssen wir uns gefallen lassen?"
In unserem der Menschenwürde verpflichteten Staat, in dem "Inklusion von Behinderten und institutionalisierte Anti-Diskriminierung im Gesetzesrang" stünden, könnten, so Felix Neumann auf katholisch.de, Minderheiten Toleranz vielmehr "als Grundrecht, als zivilisatorischen Mindeststandard einfordern – übrigens auch rechtlich: Das Grundgesetz kennt keine in herrschaftlicher Güte gewährten Rechte".
Dass Pressetexte wie der zu einer Talkshow unter der Überschrift: "Was müssen wir uns gefallen lassen – was nicht?" im Blick auf farbige, homosexuelle oder behinderte Personen "befremdlich wirken", stimmt. Doch die Berufung auf einen rechtlich verbürgten, einklagbaren Standard, hinter den die ARD-Toleranzappelle zurückfielen, verkennt einige Tatsachen: Zunächst die, dass "Menschenwürde" und "Grundrechte" in unserem Grundgesetz in 65 Jahren sehr unterschiedliche Verfassungswirklichkeiten ermöglicht haben. Eine Verfassung "arbeitet" wie Holz. Wertewandel zieht Rechtswandel nach sich.
An der Rechtsprechung zum Grundrecht auf Leben und zum Paragraphen 218 lässt sich dies unter Hinzuziehung der Umfrageforschung nachvollziehen. Dabei ist die Umkehrung eines Trends nie auszuschließen. Die Grünen haben es mit ihrer Haltung zur Pädosexualität gerade erfahren. Niemand weiß etwa, ob die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, bei der sich die westliche Welt in krassem Widerspruch zu orthodoxen, muslimischen und afrikanischen Gesellschaften befindet, hierzulande wirklich das "Ende der Geschichte" darstellt.
Medien- und Alltagswirklichkeit unterscheiden
Zweitens müssen die gesamtgesellschaftlichen Rechtsstandards von sozialen Milieustandards unterschieden werden. Farbige Menschen dürften im Saarland insgesamt sicherer vor Schmähungen und Gewalt leben als in Mecklenburg-Vorpommern, Behinderte mehr Integration im sozial-ökologischen Milieu als bei "modernen Performern" erfahren. Die Behauptung des AfD-Sprechers Konrad Adam und der CDL-Vorsitzenden Mechthild Löhr, es gebe "keine Diskriminierung von Homosexuellen in Deutschland mehr", sagt mehr über Herkunft und Differenzierungsvermögen der beiden Wortführer aus als über die Sachlage.
Vor allem zwischen Medien- und Alltagswirklichkeit wird zu wenig unterschieden. Und je stärker der Antidiskriminierungsimpetus der öffentlichen Meinung, in desto subtilere Formen weicht die Diskriminierung aus: Von stiller Ausgrenzung über die Suggestion von Sozialschädlichkeit (finanziell oder moralisch) bis hin zum Herunterrechnen der Anzahl Betroffener, deren Gruppe nur übermäßig beachtet werde sowie der Leugnung, dass diese überhaupt Diskriminierung erleide. Gegen solche Ressentimentpflege ist grundrechtlich kein Kraut gewachsen. Sie ist voll von der Meinungs- und Handlungsfreiheit gedeckt.
Drittens deuten Umfragen durchaus auf ein gesamtgesellschaftliches Problem hin: 54 Prozent der 20- bis 49-jährigen in Deutschland halten Diskriminierung aufgrund ethnischer Herkunft, 43 Prozent aufgrund von Behinderung und 36 Prozent aufgrund von sexueller Orientierung für verbreitet (Infratest 2009). Nur 11 Prozent der Befragten meinen, die dagegen unternommenen Anstrengungen seien "sicher" ausreichend, 38 Prozent "bis zu einem gewissen Grad"; für 44 Prozent reichen die Gegenmaßnahmen nicht aus. Schon ausländerfeindlich beschimpft worden zu sein, berichten 60 Prozent der Neuntklässler afrikanischer Herkunft und jeder Zweite mit türkischem Migrationshintergrund (KFN 2010).
„Was müssen wir uns von Glaubensbrüdern und -schwestern gefallen lassen – was nicht?“
Dass "die Ausübung des islamischen Glaubens in unserem Land eingeschränkt werden" solle, meinen 32 Prozent der Bevölkerung (Infratest 2013), "dass die Juden in Deutschland zuviel Einfluss haben" 13 Prozent (Heitmeyer 2011). Dass es "für homosexuelle aktive Fußballprofis unproblematisch ist, sich zu ihrer Sexualität zu bekennen", vermutet nur jeder Vierte (SID 2014), und 11 Prozent sprechen sich dagegen aus, dass "die Gesellschaft Homosexualität akzeptiert" (Pew 2013). Auch die Meinung: "Behinderte erhalten zu viele Vergünstigungen" wird von Millionen Menschen (4,2 Prozent) vertreten.
Verfassungsrechtlich mag es, wie Felix Neumann klarstellt, abwegig sein, "dass die Mehrheit huldvoll etwa Menschen mit Behinderungen, religiösen, ethnischen oder sexuellen Minderheiten Toleranz gewährt – und konsequent dann auch wieder entziehen kann". Doch aus soziologischer Sicht beruht Recht letztlich durchaus auf einem "Dafürhalten" von Mehrheiten, und Minderheitenrechte verdanken sich der Akzeptanz von Vielfalt und Fremdartigkeit auch bei jenen, die sich "normal" fühlen, ihre eigene "Normalität" aber nicht zum Maßstab für andere machen.
Sensibilität der Deutschen für gleiche Würde aller Menschen
Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset definierte den Staat 1929 als den "Status, die Statik, die Gleichgewichtslage der Meinungen". Wenige Jahre später geriet die Weimarer Republik endgültig aus dem Gleichgewicht. In ökologischer Diktion: Sie kippte um, mit verheerenden Folgen nicht nur für Deutschland und die Völker der Welt, sondern auch für die "Humanökologie": Juden, Sinti und Roma, geistig Behinderte, Homosexuelle und alle, die dem Nazi-Herrenmenschentum irgendwie minderwertig erschienen, zahlten einen schrecklichen Preis für ihr Anderssein. Dieser Humanitätsinfarkt der eigenen Nation begründet bis heute die besondere Sensibilität der Deutschen für die Prämisse der gleichen Würde aller Menschen und für das Gebot der Toleranz.
Dass Angela Merkel, anders als Konrad Adenauer, vor dem Europaparlament nicht das Christentum, sondern die Toleranz die "Seele Europas" nannte, mag einer veränderten religiösen Kultur geschuldet sein und Gläubige enttäuscht haben. Versteht man die Toleranz jedoch als Konsequenz der Imago-Dei-Lehre und späte Frucht der Evangelisierung Europas, die erst im Herbst des christlichen Abendlandes zur vollen Reife gelangt ist, dann könnte die Aussage der CDU-Vorsitzenden mehr mit der ihres großen Vorgängers zu tun haben, als manche der eifrigsten Glaubensbekenner vermuten.
Gerade diese, denen das Siegel der "Gottesebenbildlichkeit" zur Verbriefung des unantastbaren Lebensrechts auch ungeborener Menschen dient, diskreditieren nicht selten die christliche Menschenfreundlichkeit durch Intoleranz gegenüber geborenen "Ebenbildern" und ihrer Liebesfähigkeit: Etwa ein mit seiner "Homophobie" – sei sie nun real oder nur nachgesagt – kokettierender katholischer Publizist; eine Demonstrationsverbote für Homosexuelle in Russland belobigende katholische Zeitung ; eine katholische Vorkämpferin gegen den "Genderwahn", die sich auf einer Propagandakonferenz im Kreml mit korrupten Putin-Kumpanen, westeuropäischen Rechtsextremisten und homophoben Popen herumtreibt und dies anschließend dem frommen Volk als "in sich gut" verkauft.
Die ARD-Themenwoche zur Toleranz sollte also auch innerhalb der Kirche Anlass zu einer Gewissenserforschung und Selbstreinigung sein: "Was müssen wir uns von Glaubensbrüdern und -schwestern gefallen lassen – was nicht?" Je weniger Christen bei offener oder kaschierter Intoleranz erwischt werden, desto glaubwürdiger können sie für sich selbst eine Toleranz einfordern, die längst nicht mehr selbstverständlich ist, und allzu militante Vertreter bestimmter Minderheiten darauf hinweisen, dass Toleranz keine Einbahnstraße von der Mehrheit zur Minderheit ist, sondern von jedem Mitglied der Gesellschaft erwartet werden kann.
Fordern die Christen zuviel Toleranz für sich selbst?
Dazu gehört auch Rücksichtnahme auf christliche Eltern, die ihr Kind in der Schule nicht mit jeder Sex-Spielart und entsprechendem Utensil konfrontiert wissen wollen. Toleranz für katholische Schützenvereine, in deren Tradition ein verschiedengeschlechtliches Schützenpaar selbstverständlich ist. Toleranz für die öffentlichen Symbole christlicher Weihnacht auch dort, wo es starke Minderheiten anderen Glaubens gibt. Toleranz für eine Arbeitgeberin Kirche, die in katholischen Krankenhäusern keine Verstöße gegen ihre "Kultur des Lebens" dulden kann.
Eine Religion, deren Stifter lehrte, dass Gott seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45) und dass die Knechte des Herrn das Unkraut nicht ausreißen sollen: "Lasst beides wachsen bis zur Ernte" (Mt 13,28-30); der den ungläubigen Thomas nachsichtig und liebevoll zur Wahrheit führte, statt ihn zu verstoßen; der lehrte, selbst die Feinde zu lieben und "Gutes zu tun, denen, die euch hassen" (Lk 6,27), und dessen Jünger als Märtyrer noch im Tod für ihre Verfolger und Mörder beteten (Apg 7,60) – diese Religion ist hier und heute weit überwiegend zu einem Schutzraum der Achtung und Großzügigkeit gegenüber Menschen geworden, die anders sind.
Kirchgänger zeigten im Vergleich zu "Kirchenabstinenzlern" bei einer Allensbacher Frage nach "Personengruppen, die sie nicht gern als Nachbarn hätten" eine größere Toleranz gegenüber Moslems, Hindus, Juden, Menschen anderer Hautfarbe, Ausländern/Einwanderern und, bei Einsatz eines Altersfilters (nur 18-50-jährige), auch gegenüber Homosexuellen (IfD 2008). Auf diesen Beitrag zum sozialen Klima in unserer Gesellschaft darf man, bei aller Wachsamkeit für christliches Toleranzversagen, durchaus auch stolz sein.
Von Andreas Püttmann