Ein Geschenk Gottes
Er ist wieder da. Dieser eine von 365 Tagen, an dem rund um die Kirchen ein Verkehrschaos entsteht und man nur mit Mühe einen Parkplatz findet. Dieser Tag, an dem es voll wird in den Gotteshäusern. An dem in mancher Kirche die Sitzplätze knapp werden. An dem sich schon eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes die ersten Bankreihen füllen.
Familien reisen mit Kind und Kegel an. Sie bringen Oma, Opa, Tanten und Onkels mit – und nehmen gleich ganze Bankreihen in Beschlag. Paare kommen, Singles, Freundeskreise. Auch manche Jugendliche und junge Erwachsene, die sich eher nicht zum "Stammpublikum" zählen, wollen mitfeiern. Der übliche Altersdurchschnitt wird ordentlich durcheinander gewirbelt. Es kommen Menschen, die man sonst nie in der Kirche sieht. Nur an diesem einen, besonderen Tag. Am Heiligen Abend.
Ein Weihnachtsgeschenk Gottes
"Das sind doch bloß Taufscheinchristen" hört man es hin und wieder raunen. "Die kommen ja nur, weil’s Tradition ist . Allein wegen dem Weihnachtsgefühl sind die da. Das hat mit dem Glauben überhaupt nichts zu tun." Mancher Prediger nutzt die Gelegenheit, um den Gottesdienstbesuchern die Leviten zu lesen. Um sie mehr oder weniger freundlich daran zu erinnern, dass es eine Sonntagspflicht gibt, die ein guter Christ bitteschön wahrzunehmen habe.
Man kann das Ganze natürlich auch mit einem anderen Blick sehen. Zum Beispiel als Weihnachtsgeschenk Gottes an die Pfarreien: Am 24. Dezember schenkt Gott uns eine volle Kirche. Super! Irgendwie hat er es geschafft, ganze Menschenmassen dazu zu bewegen, unsere Gottesdienste mitzufeiern. Menschen, die ansonsten wenig mit Kirche am Hut haben, sitzen in den vollen Bänken und freuen sich auf eine schöne Feier. Auf Weihnachtslieder , harmonische Momente , einen Christbaum voller leuchtender Kerzen und auf "Stille Nacht" .
Vorfreude auf das Ungewohnte
Gott schenkt uns eine geniale Chance! Mag sein, dass in vielen Fällen mehr die romantischen Weihnachtsgefühle zur Mitfeier motivieren als der Glaube an Jesus Christus. Na und? Die Menschen sind gekommen. Das allein zählt. Sie erwarten sich etwas. Sie freuen sich auf den Gottesdienst. Sie sind bereit, sich auf eine für sie ungewohnte Feier einzulassen. Auf liturgische Handlungen, die ihnen bisweilen ebenso fremd sind, wie es den meisten regelmäßigen Gottesdienstbesuchern die Rituale der Elbenvölker aus Tolkiens Mittelerde sind. Die seltenen Gäste nehmen es in Kauf, nicht alles zu verstehen. Sie sind neugierig und bereit, sich anzuhören, was der Priester in der Predigt zu sagen hat. Sie hören zu - bei den Lesungen, dem Evangelium , den Gebeten und Liedern. Sie feiern mit. Sie beten mit. Sie sind mehr als "Gäste", mehr als "Besucher".
„Die Menschen sind gekommen. Das allein zählt.“
Gott macht uns nicht nur ein Geschenk. Er stellt unsere Pfarreien und die Seelsorgerinnen und Seelsorger auch vor die Herausforderung, die seltene Chance nicht ungenutzt vergehen zu lassen. Immer wieder höre ich von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, dass sie sich nach einer Botschaft sehnen, die etwas mit ihrem Leben zu tun hat. Dass der Glaube an Gott dann relevant wird, wenn er nicht theoretisch bleibt, sondern ihre Sehnsüchte, ihre Hoffnungen und ihre alltäglichen Erfahrungen berührt. Dass Kirche plötzlich interessant wird, wenn sie nicht gleich mit Verboten und Anweisungen um die Ecke kommt, sondern sich ehrlich für die Fragen und Anliegen der jungen Menschen interessiert. Den meisten Erwachsenen wird es nicht anders gehen.
Gott möchte jeden unserer Wege begleiten
Wie wäre es, wenn die Menschen am 24. Dezember den Gottesdienst mit genau dieser Erfahrung verlassen würden? Mit der positiven Erfahrung, dass die letzten anderthalb Stunden etwas mit ihrem Leben zu tun hatten. Mit dem vielleicht noch ganz wagen Gefühl, dass Gott sich für sie interessiert und ihre Wege begleiten möchte. Mit dem Gedanken im Kopf, dass die Kirche vielleicht doch eine recht spannende Botschaft hat. Eine Frohe Botschaft .
Wenn das gelingt, könnte es passieren, dass manche der seltenen Gottesdienstbesucher wiederkommen. Nicht nur, weil die Feier so toll, die Musik so ergreifend, die Predigt so romantisch und die Kerzen so schön waren - sondern weil sie gespürt haben, dass da noch mehr ist. Dass es sich möglicherweise lohnen könnte, an Gott dranzubleiben...
Nein, ich bin kein naiver Träumer. Mir ist klar, dass auch ein noch so gut vorbereiteter Weihnachtsgottesdienst nicht dazu führen wird, dass die Kirchen an den restlichen 364 Tagen des Jahres plötzlich voll sind. Aber ich vertraue darauf, dass Gott die Macht hat, die Herzen der Menschen zu berühren. Wenn wir ihn nur lassen. Wenn wir ihm die Chance geben!
Von Carsten Leinhäuser