Zutiefst evangelisch, zutiefst ökumenisch
Ein ökumenisch anschlussfähiges Papier
Welch eigenartige Allianz! Auf der einen Seite schießen die Reformationshistoriker Heinz Schilling und Thomas Kaufmann, denen bislang noch niemand allzu viel ökumenische Gesinnung vorgeworfen hat, auf das Papier "Rechtfertigung und Freiheit" ein, auf der anderen Seite nun der für seine Bedachtsamkeit bekannte Kardinal Kasper. Den einen wird auf kaum mehr als hundert kleinformatigen Seiten zu wenig akademisch abgesicherte Geschichte getrieben, dem anderen die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung zu wenig erwähnt. Einig sind sie sich alle drei: Hier werde "dogmatische Geschichtsschreibung" betrieben.
Die Kritik von Kaufmann und Schilling ist vollmundig – und geht mit Schwung an der klaren Intention des Textes vorbei. Das EKD-Papier will das zentrale Thema reformatorischer Theologie benennen: die Rechtfertigungslehre. Es will nicht darüber belehren, dass diese erst allmählich gewachsen ist. Es will nicht die Hintergründe der Reformation in der vielfältig polaren Gesellschaft des späten Mittelalters beschreiben, sondern den Kern dessen, was Berndt Hamm in der wohl kreativsten Deutung der Reformation in den vergangen Jahrzehnten als "normative Zentrierung" beschrieben hat. Es will daran erinnern, dass es, in unterschiedlichen Schattierungen, ein normatives Zentrum der Reformation gab – und dass dieses auch den Menschen von heute noch etwas zu sagen hat. Wer eine solche Absicht als "Ideologie" bekämpft, liegt nicht nur theologisch falsch, sondern auch historisch. Und wer die Forderung an einen von der EKD für die evangelische Selbstverständigung in Auftrag gegebenen Text stellt, so etwas wie ein examensrelevantes Kompendium historischer Erklärungen zu liefern, hat offenbar Mühe mit der für Historiker doch eigentlich selbstverständlichen Aufgabe, Texte in ihrem intendierten Kontext zu verstehen.
Dieser Fehlgriff erinnert in manchem an den harschen Protest vieler evangelischer Theologen gegen die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999, als Protestanten den ökumenischen Konsens nach Maßgabe evangelisch-dogmatischer Grundkurse durchmusterten. Womit dann auch gleich die Enttäuschung von Kardinal Kasper darüber, dass diese Erklärung in dem Papier "mit keinem Wort auch nur erwähnt" werde, angesprochen wäre. Das späte Mittelalter kannte das Instrument der Appellation an den besser zu informierenden Papst. Ob das wohl auch für Kardinäle gilt?
„Zum Glück ist das Papier, genau gelesen, beides: zutiefst evangelisch und ökumenisch.“
Worauf soll sich denn der Hinweis "auf die römisch-katholische Kirche, mit der die Rechtfertigungslehre zwar gemeinsam formuliert werden kann, aber kirchentrennende Differenzen über das Verständnis des Amtes und der Sakramente bleiben" (S. 39 des EKD-Papiers), beziehen, wenn nicht auf das grundlegende kirchenhistorische Ereignis der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999? Das steht so im ersten Teil des Papiers, unter der Überschrift "Die Reformation – eine offene Lerngeschichte" und im Zusammenhang der Betonung, dass die "Überwindung der Spaltungen" "reformatorische Aufgabe" ist. Dieses klare und wichtige ökumenische Bekenntnis bildet gewissermaßen den Vorspruch für all das, was im Folgenden an wichtigen grundlegenden Gedanken zur Rechtfertigungslehre entfaltet wird. Hier wird über den Kernbestand der reformatorischen Theologie im Bewusstsein ökumenischer Verständigung gesprochen. Zum Glück ist das Papier, genau gelesen, beides: zutiefst evangelisch und ökumenisch. So kann es für 2017 einen gemeinsamen Weg ebnen – den hoffentlich auch Kardinal Kasper mit beschreiten wird.
Von Volker Leppin