"Der Skandal wird chronisch"
Frage: Herr Professor Ebertz, 2013 ist die Zahl der Kirchenaustritte wieder deutlich angestiegen. Ist das ein Einmal-Effekt?
Ebertz: Nein. Wir haben es mit einer ähnlich hohen Zahl zu tun wie 2010, da waren es 181.000 Austritte. 2013 sind es jetzt über 178.000. Das hat offensichtlich mit den Skandalen der Kirche zu tun. 2010 war das Jahr, in dem es um den sexuellen Missbrauch in der Kirche ging, 2013 wurden die Finanzen der Kirche thematisiert, Stichwort Limburg. Wir haben also einen Doppelschlag: Sex und Finanzen. Der Skandal wird chronisch in der Kirche. Das drückt sich in einem rapiden Vertrauensverlust der Institution Kirche aus, und das führt zu Austritten.
Frage: Wie kommt es zum Kirchenaustritt? Kann man das an einem einzigen Anlass festmachen?
Ebertz: Das ist auf Basis dieser nackten Zahlen schwer zu sagen, dazu braucht es andere Methoden. In unserem Institut haben wir angefangen, Kirchenaustritte mit Interviews zu untersuchen. In unseren Veröffentlichungen sprechen wir von "Kirchenaustritt als Prozess". Der Austritt selbst vollzieht sich als Endpunkt einer Entwicklung, die sich schon mehr oder weniger lang vorher angebahnt hat. Am Ende genügt dann ein Auslöser.
Frage: Wie etwa einmalige Ereignisse wie der Finanzskandal in Limburg?
Ebertz: Eben nicht einmalig. Wenn das wirklich einmalig wäre, könnten die Leute immer noch sagen: "Es ist ein Unfall, es menschelt, das gibt's überall, auch in der Kirche". Es ist aber ein mehrfacher, ein chronischer Skandal. Es handelt sich um Systemfehler, es handelt sich um einen institutionellen Mangel – und die Antwort ist dann Vertrauensverlust. Es geht nicht mehr nur um einzelne Personen, denen das Vertrauen entzogen wird, es geht um das Vertrauen, das der Institution entzogen wird. Die Skandale zwischen 2010 und 2013 wurden auf allen Ebenen der kirchlichen Hierarchie offenbar. Es sind nicht mehr nur die einzelnen Pfarrer, es sind auch Bischöfe wie in Limburg, als prominentes Beispiel, es geht um Finanzprobleme in der Kurie, es geht um die Kirche als Arbeitgeberin, Stichwort Weltbild. Die Menschen haben den Eindruck, dass das kein Versagen von einzelnen ist: es hat System – und das ist ein Super-GAU, denn Institutionsvertrauen ist viel schwieriger zurückzugewinnen als das Vertrauen in einzelne.
Frage: Im Statement des Vorsitzenden der Bischofskonferenz ist die Rede von einem Weckruf für die Kirche, es soll Vertrauen geschaffen werden durch "gute und überzeugende Arbeit" – was steht an in den nächsten Jahren?
Ebertz: Ich glaube nicht, dass die Kirche, was Krisen und Skandale angeht, über den Berg ist. Zunächst ist das Enttäuschungspotential relativ groß. Wir werden weitere Aufdeckungen sexuellen Missbrauchs erleben, wir werden weiter den Umgang mit Geld und Vermögen diskutieren. Einige Diözesen haben ihre Vermögensstruktur ja immer noch nicht transparent gemacht. Wir wissen noch nicht, wie die Kurienreform ausgehen wird und die Reform der Vatikanbank. Viel Enttäuschung droht angesichts der Erwartungen an die Bischofssynode in Rom, wo es um so elementare Fragen wie Ehe und Sexualität geht, wo die Menschen selbst Experten sind und die Kirche sich schwer tut, ihre privaten Realitäten anzuerkennen.
„Es ist einfacher, Normbrüche zu skandalisieren, als Heilungsprozesse zu thematisieren.“
Frage: Wie sehen aktuelle Entwicklungen hinsichtlich des Kirchenaustritts aus?
Ebertz: Schon jetzt hat Bischof Fürst von Rottenburg-Stuttgart öffentlich gesagt, daß im laufenden Jahr 2014 die Austrittszahlen in seinem Bistum so hoch sind wie 2012 und 2013 zusammen. Auch für 2014 lässt sich also eine relativ hohe Zahl von Kirchenaustritten prognostizieren. Die Kirche kann versuchen, das zu heilen, indem sie zum Beispiel Regeln zur Verhinderung sexuellen Missbrauchs in ihren Einrichtungen verschärft.
Frage: Was sie auch tut.
Ebertz: Ja, aber es ist schwierig, das zu kommunizieren. Es ist einfacher, Normbrüche zu skandalisieren, als Heilungsprozesse zu thematisieren. Ich glaube schon, dass es Bemühungen gibt, mehr Kontrollmechanismen einzuführen, etwa wenn es um Finanzen geht. Im Limburg ging es ja um ein Kontrollversagen. Man wird zunehmend wachsamer sein innerhalb der Institution Kirche. Das aber nach außen zu kommunizieren ist eine andere Sache. Es ist ein schwieriger Weg, die Menschen zu überzeugen, dass Regeln funktionieren und die Institution insgesamt vertrauenswürdig ist. Das ist eine Sache von einer, vielleicht sogar zwei Generationen, ein Prozess, der nicht so schnell Erfolge zeitigen wird. Eine Institution verspielt schneller Vertrauen, als sie es wieder aufbauen kann.
Frage: Was kann die Kirche tun, um Vertrauen aufzubauen?
Ebertz: Durch gute, qualitative Arbeit überzeugen, wie es auch Kardinal Marx sagt. Das heißt auch: Die gute, qualitative Arbeit zu kommunizieren. Aber nicht nur behaupten, gute Arbeit zu machen, nicht nur Regeln und Papiere erstellen, sondern die Arbeit auch von außen kontrollieren lassen. Die eigentliche Qualitätskontrolle muss durch Fremde geschehen. Wenn externe Sachverständige bescheinigen, dass die Kirche gute Arbeit macht, dann zeigt der Weg in die richtige Richtung. Mit einer bloße Selbstbehauptung durch Funktionäre und Akteure, gute Arbeit zu machen, ist nichts gewonnen. Die Frage ist: Ist das System Kirche in der Lage, sich externer Kontrolle zu unterwerfen mit externen Kriterien, die bestimmten Standards in unserer Zivilisation entsprechen?
Das Interview führte Felix Neumann