"Was ist da passiert?"
Die EKD hat in den Debattenbeiträgen ganz unterschiedlicher Akteure deutlich gemacht: das Leitbild Ehe gilt. Es gehört zu den wichtigen Aufgaben der Kirchen, zur Ehe zu ermutigen, die gewachsenen rechtlichen Formen lebenslang verbindlichen Zusammenlebens stark zu machen und das gerade in der Vielfalt der Lebensformen, die unsere Zeit kennzeichnet. Ebenso deutlich ist aber auch geworden, dass es gilt, die Vielfalt heutiger Lebensformen wirklich ernst zu nehmen und sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Offenheit in der katholischen Kirche
Genau das tut die römisch-katholische Kirche gegenwärtig mit einer Offenheit, die allerhöchsten Respekt abnötigt. Dass die Antworten auf die vom Vatikan ausgegangene Umfrage über Familie, Ehe und Sexualität und die in diesen Antworten zum Ausdruck kommende Divergenz zwischen gelehrter Ethik und gelebter Ethik so offen nach außen kommuniziert werden, wird auch der ökumenischen Behandlung des Themas gut tun.
Nun wird über die Rechtfertigungslehre diskutiert. Irritation bestimmt den Ton, in einer Schärfe, die auf evangelischer Seite Überraschung, aber auch Betrübnis auslöst – jedenfalls bei mir. Und das insbesondere, weil diese Irritation auch von engagierten Ökumenikern zum Ausdruck gebracht wird.
Was ist da passiert?
Anlass ist die EKD-Schrift "Rechtfertigung und Freiheit" . Dieser Publikation wird vorgehalten, als Kernpunkte heutiger reformatorischer Selbstvergewisserung die fünf bekannten Exklusivpartikel – solus Christus, sola gratia, solo verbo, sola scriptura, sola fide – so unhistorisch zu instrumentalisieren und zuzuspitzen, dass eine ökumenische Verständigung von vornherein ausgeschlossen sei.
Sogar von " Empörung und Enttäuschung" ist die Rede. Und es werden Stimmen laut, die die Beteiligung der katholischen Kirche an Veranstaltungen zum Reformationsjubiläum bzw. –gedenken grundsätzlich in Frage stellen.
Man reibt sich die Augen und fragt sich: Was ist da passiert? Neben inhaltlichen Diskussionspunkten spielen sicher auch kommunikative Enttäuschungen eine Rolle. Die in intensiver Zusammenarbeit zwischen Lutherischem Weltbund und römisch-katholischer Kirche ausgearbeiteten ökumenischen Erklärungen zum Thema werden in dem neuen Text nicht explizit erwähnt. Dieser Schatz an ökumenischen Dialogfrüchten sollte in der Zukunft tatsächlich auch in EKD-Dokumenten besser aufgenommen werden. Hier könnten und sollten die Bemühungen um ein stärkeres Zusammenwachsen der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) und der EKD auch dazu führen, dass die lutherische ökumenische Dialogarbeit als Ressource für die EKD wirklich genutzt wird.
Sinn der evangelischen Rechtfertigungslehre aufschließen
Was das Inhaltliche angeht, scheint mir die Wurzel des Dissenses in einem unterschiedlichen Verständnis des Charakters des EKD-Dokumentes, aber auch einiger seiner Inhalte, zu liegen. Das Dokument ist der Versuch, für die heutige Zeit den Sinn der zunächst ja recht sperrig daher kommenden evangelischen Rechtfertigungslehre aufzuschließen. Dieser Versuch ist in dem Text auch hervorragend gelungen. Dass die evangelische Kirche 500 Jahre nach der Reformation sich ihrer Wurzeln vergewissert und eine klare theologische Grundlage für die Antwort auf die Frage liefert, was evangelischer Glaube denn überhaupt bedeutet und worin seine Relevanz besteht, das kann man ja nun wirklich nur begrüßen.
Und es widerspricht auch nicht dem, was die ökumenischen Dokumente erarbeitet haben. Es ist legitim, dass in den jeweiligen konfessionellen Traditionen Dokumente erarbeitet werden, die das jeweilige konfessionelle Selbstverständnis zum Ausdruck bringen und von daher markieren, von welchem Hintergrund her die Kirchen in die ökumenischen Dialoge gehen. Genauso wichtig ist es aber, in ökumenischen Dialogtexten zu ergründen, ob sich die jeweiligen konfessionellen Selbstverständnisse wechselseitig widersprechen oder ob sie vielleicht mehr Schnittmengen enthalten als auf den ersten Blick sichtbar ist und ob die am Ende zutage tretenden Differenzen kirchentrennend sind oder eben nicht. Konfessionelle Unterschiede können dann durchaus auch als Reichtum wahrgenommen werden und nicht als Basis für Abgrenzung.
Kein Widerspruch zur Gemeinsamen Erklärung
Genau in dem Sinne ist die am 31. Oktober 1999 verabschiedete Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zu verstehen. Sie markiert einen Grundkonsens in Glaubenswahrheiten, ohne die nach wie vor bestehenden unterschiedlichen Interpretationen einfach zu verwischen oder ganz zu verschweigen. Dass die Erklärung aber den kirchentrennenden Charakter dieser Differenzen überwunden hat, ist ein Riesenfortschritt.
„Man reibt sich die Augen und fragt sich: Was ist da passiert?“
Ich kann nicht sehen, warum das jetzt von der EKD vorgelegte Dokument dazu in Widerspruch stehen soll. Denn natürlich sind die die fünf bekannten Exklusivpartikel – solus Christus, sola gratia, solo verbo, sola scriptura, sola fide – exklusiv. "Solus" heißt ja "allein". Das ist evangelisches Verständnis von Rechtfertigung. Der Sinn wird in dem Dokument auch wenig später erläutert: "Die Beziehung zwischen Gott und Mensch liegt grundlegend an Gottes Liebe zum Menschen. Es ist nicht der Mensch, der sich bemühen muss, zu Gott zu kommen. Gott ist schon zum Menschen gekommen. Darauf kann sich der Mensch verlassen" (S.48). Das ist eine wunderbare Beschreibung eines im Glauben befreiten Lebens. Und wer alte protestantische Klischees über katholische "Werkgerechtigkeit" hinter sich lässt, wird ein solches Verständnis des Glaubens gerade nicht in Gegensatz zum katholischen Verständnis setzen. Das zu verstehen, hat uns die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 geholfen.
Unterschiede nicht als Hinderungsgrund sehen
"Darum ist die Lehre von der Rechtfertigung" so heißt es in der Gemeinsamen Erklärung – "ein unverzichtbares Kriterium, das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will. Wenn Lutheraner die einzigartige Bedeutung dieses Kriteriums betonen, verneinen sie nicht den Zusammenhang und die Bedeutung aller Glaubenswahrheiten. Wenn Katholiken sich von mehreren Kriterien in Pflicht genommen sehen, verneinen sie nicht die besondere Funktion der Rechtfertigungsbotschaft." (Ziffer 18).
Wo soll da der Gegensatz sein? Wir können von ökumenischen Dialogdokumenten nicht erwarten, dass die jeweiligen konfessionellen Traditionen als Folge davon aufgegeben werden. Dass Unterschiede bleiben, muss aber kein Hinderungsgrund für ökumenisch-geschwisterliche Gemeinschaft sein.
Deswegen hoffe ich, dass sich auch in diesem Fall die Wogen wieder glätten. Der heftig vorgetragene Verdruss auf katholischer und die Verwunderung darüber auf evangelischer Seite könnte Ausgangspunkt und Ansporn für ein intensiviertes wechselseitiges Hinhören werden, um das Jahr 2017 in ökumenischer Gemeinsamkeit als großes Christusfest feiern, so wie Luther selbst es sich nach meiner Überzeugung gewünscht hätte.
Von Bischof Heinrich Bedford-Strohm