Kurz vor dem Kollaps?
Im Aufmacher der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" (28.12.) verglich ausgerechnet Markus Günther, ein glühender Verteidiger von Bischof Tebartz-van Elst , die heutige Kirche in Deutschland mit "der späten DDR: sieht stabil aus, steht aber kurz vor dem Kollaps. Und wie in der späten DDR machen sich viele Funktionäre etwas vor. Pfarrer und Bischöfe, auch viele Aktive in den Pfarrgemeinden sehen blühende Landschaften, wo längst Wüste ist"; wo es um die eigene Existenz gehe, "vernebelt oft Zweckoptimismus den nüchternen Blick auf die Realität".
Entgegen der im Allensbacher Langzeittrend schwindenden Selbstdefinition als "religiöser Mensch", hob Günther hervor, es gebe "sie noch in großer Zahl, die Suchenden und Zweifelnden, die, die nach Gott fragen und neugierig sind auf Antworten – aber die Kirchen erreichen diese Menschen immer seltener", "Angebot und Nachfrage" passten nicht zusammen. Als Lösung fiel ihm kaum mehr ein als dies: "Glaube braucht einen Schuss Naivität, die Bereitschaft, die Kontrolle aus der Hand zu geben und sich auf Unbegreifliches einzulassen". Sicher, aber ohne ein Wort zur Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft , der Leitidee des Pontifikats von Benedikt XVI. , entsteht hier eine Schlagseite.
Lust am Untergang
Etwas Wahres hat zwar auch der Vorwurf, die Kirchen hätten "selbst viel dazu beigetragen, Frömmigkeit und Glaubensnaivität, oder besser: die Unmittelbarkeit religiöser Bilder zu zerstören. In den Köpfen wurde der Sturm auf die traditionellen Vorstellungen angezettelt". Aber ohne andere Faktoren einzubeziehen bleibt so eine Analyse ein publizistischer Festschmaus für die eh zur Kirchenapokalypse neigenden Traditionalisten und Ultrakonservativen. Sie verbreiteten den Artikel denn auch so eifrig weiter, dass fast eine Art Lust am Untergang spürbar wurde – denn Schuld sind ja die anderen und danach wäre der Weg frei für eine Restauration traditioneller Kirchlichkeit.
Auf katholisch.de setzte "European"-Chefredakteur Alexander Görlach am 2. Januar noch eins drauf (siehe unten): Es sei "schlimm, dass sich die Bischöfe angesichts dieses Befundes zurückziehen in ihr ureigenstes Milieu. Wenn sie nicht ganz blind sind, müssten sie merken, dass auch hier die Erosionsprozesse so weit fortgeschritten sind, dass es sich mit der Basis der Kirchengemeinden so verhält wie mit Butter in der Sonne. Die Kirche in Deutschland hätte so tief nicht sinken müssen. Zu Zeiten, als die Gottesdienste noch gut gefüllt waren, so vor einem Vierteljahrhundert zum Beispiel, hätte man die Versäumnisse der 70er Jahre noch nachholen können: Katechese in den Gemeinden, Religionsunterricht, in dem es auch um Religion geht." – Richtig, aber hilft jetzt nicht weiter. Hätte, hätte, Fahrradkette!
Geben allein Bischöfe Zeugnis für den Glauben ab?
Auch die Schuldzuschreibung an "die Bischöfe" ist wohlfeil. Für christliche Kommunikation und praktische Zeugnisgabe sind alle Gläubigen zuständig. Zudem stimmt die Behauptung nicht: "Welche Debatte wird denn initiiert oder inspiriert von christlichem Gedankengut? Keine. Weder die Arbeitsmarkt- noch die Flüchtlingsdebatte, noch die Wirtschaftsdebatten oder die Debatten zu Medizin und Lebensende. Ja noch nicht mal die Debatte um das christliche Abendland selbst, die wir im Moment führen, wird in irgendeiner Weise von aktuellen christlichen Denkern oder Gedanken beeinflusst." Wessen Schuld? "Das Versäumnis liegt allein bei den Kirchen." Wie eine Kurzfassung davon liest sich Alexander Kisslers Zynismus auf Twitter: "Das Schöne an den Kirchen: Sie agieren vorausschauend, d.h., sie handeln heute schon so, dass sie morgen niemand vermissen wird."
Einspruch! Wer die Debatte zum assistierten Suizid verfolgt hat oder derzeit nicht ganz taub ist für kirchliche Stellungnahmen zu "Pegida", der kann das Gegenteil wahrnehmen. Christliches Gedankengut war höchst präsent im Bundestag, als Volker Kauder, Peter Tauber, Hermann Gröhe, Claudia Lücking-Michel, Michael Brand und andere sprachen – bis hin zu biblischen Psalmen-Rezitationen.
Es ist auch oft präsent, wenn Bundespräsident Gauck spricht – mit oder ohne brennende Kerze im Hintergrund. Und was in der Politik offenkundig bleibt, spielt sich im Alltag millionenfach ab in unserem Land. Man kann es schätzen oder nervig finden, aber immer noch gilt das Wort des 1999 verstorbenen Publizisten Johannes Gross: "Der Platzregen des Evangeliums rauscht nicht mehr, aber klamm ist es in Deutschland geblieben".
Weder "blühenden Landschaften" noch "Wüste"
Werte Kollegen! Dass sich das Christentum in Europa auf dem Rückzug befindet, muss nicht mehr in die Welt hinausposaunt werden. Es ist inzwischen bekannt. Dass noch irgendwer in der Kirche von "blühenden Landschaften" fantasiere, ist eine freie Erfindung und polemisch. Dass nur noch "Wüste" sei, ist jedoch ebenso falsch. Man muss sich nicht für irrelevanter erklären, als man tatsächlich ist. Der Beitrag der Kirchen zu Hoffnung, Trost und Ermutigung von Millionen von Menschen, zur Gewissenskultur und zum Arbeitsethos, zu einem empathischen, toleranten, und versöhnlichen sozialen Klima sowie zu einer verantwortungs- und maßvollen Politik ist immer noch größer, als viele ahnen.
Trotz der echten oder medial künstlich hochgespielten Skandale der letzten Jahre, die das Vertrauen in die Kirchen auf etwa ein Viertel der Bevölkerung schrumpfen ließen, findet das Christentum doch Wertschätzung bei einer absoluten Mehrheit der Deutschen. Dies gehört ebenso zur ganzen Wahrheit wie das Renommee christlicher Schulen oder die breite Befürwortung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen. Dass die Kirchenaustritte, die übrigens in den letzten 25 Jahren prozentual geringer ausfallen als der Aderlass der Volksparteien, nur den Kirchen selbst anzulasten seien, ist eine zu oberflächliche und übrigens auch unbiblische Sicht. Jesus selbst hatte unter den Aussätzigen, die er heilte, etwa die "Kirchenbesucherquote", auf die unser katholischer Gottesdienstbesuch jetzt laut Markus Günther dramatisch gesunken sein soll. Nur einer der zehn Geheilten kam zur Danksagung zu seinem Retter zurück.
Wenn ein "Angebot" auf wenig "Nachfrage" stößt, mag es in der Wirtschaft als schlecht gelten; aber bereits für die Politik stimmt dies nicht mehr: Wähler können sich durchaus irren, vernünftige Parteien abstrafen und Volksverführern nachlaufen. Noch weniger gilt die Verkaufslogik für eine Kirche. Jesus sagte für die Saat auch steinigen Boden und für die Verkünder der Frohen Botschaft auch verschlossene Türen und verstockte Herzen voraus. Dann gelte es, sich den Sand aus den Sandalen zu schütteln und weiter zu gehen. Nicht aber zu jammern: "Ich habe wohl alles falsch gemacht!". Und selbst das wäre über dem Niveau jener, die schreiben: "Die Bischöfe haben alles falsch gemacht." So einfach bitte nicht!
Die Parole "Jesus ja, Kirche nein" ist soziologisch überholt
Die Kirche darf Zeitläufe und Trends durchaus auch ein Stück weit "aussitzen" – nicht im Sinne der Untätigkeit, wohl aber des Ausharrens, ohne übermäßig nervös zu werden und an sich selbst zu zweifeln. Die durchchristianisierte "Volkskirchen"-Gesellschaft mag zwar dem missionarischen Auftrag entsprechen. Sie ist aber zugleich nicht der Normalfall, sondern ein Sonderfall christlicher Existenz. Einfach von oben zu "organisieren" ist sie schon gar nicht. Höchstens von ganz oben. Aber dort waltet ein Gott, der es den Menschen frei stellt, sich für oder gegen ihn zu entscheiden. Nur ein kleiner Teil der die Kirche Verlassenden glaubt noch an Gott oder nennt sich religiös. Die Parole: "Jesus ja, Kirche nein" ist nicht nur theologisch falsch, sondern auch soziologisch überholt.
Wenn viele sich abwenden, muss das nicht gegen die Kirche sprechen. Schlimmer noch: Es kann sogar für sie sprechen. Was zutrifft, werden andere erst in ferner Zukunft beurteilen können. Jedenfalls ist Akzeptanz bei der Masse kein Kriterium kirchlicher Klasse. Minderheit zu sein allerdings auch nicht. Das sei jenen gesagt, die sich selbst gern als den "heiligen Rest" betrachten. Einziges Kriterium der Kirche Jesu Christi bleibt das Evangelium – von dem wir alle nur hoffen können, dass wir es immer besser verstehen und beherzigen lernen.
Von Andreas Püttmann