Aufbrechen der Sprachlosigkeit
Frage: Pater Mertes, hätten Sie sich jemals vorstellen können, mit Ihrem Brief vor fünf Jahren eine solche Lawine auszulösen?
Mertes: Nein, aber das heißt nicht, dass ich den Schritt bereue. Im Gegenteil. Mir war von Anfang an klar, dass es allein bei dem einen Pater in Berlin mindestens 100 Opfer geben muss. Ich musste mich daher an die potenziell betroffenen Jahrgänge richten, um klar zu machen: Damals ist Euch nicht zugehört worden, heute aber bin ich dazu bereit.
Frage: Warum hat es so lange gedauert, bis es zu einer Aufarbeitung der Missbrauchstaten kam?
Mertes: Da kommen sicher mehrere Faktoren zusammen. Einige Opfer hatten ja schon vorher versucht, Gehör zu finden, waren damit aber gescheitert. Einzelne Zeitungsberichte über andere Missbräuche, etwa in der Odenwaldschule, sind wirkungslos verhallt. 2010 war neu, dass erstmals Männer gesprochen haben. Dann, dass der Missbrauch in einer Institution stattfand, die in der Mitte der Hauptstadt nahe dem Brandenburger Tor steht und eine hohe Prominenz besitzt. Auch, dass es eine katholische Institution war und damit sofort die katholische Kirche als ganze im Mittelpunkt stand, die größte und älteste Institution der Welt. Schließlich spielt eine Rolle, dass nicht nur Opfer gesprochen haben, sondern schon gleich über eine Reaktion der Institution berichtet werden konnte.
Frage: Brauchte die deutsche Gesellschaft Zeit, bis sie überhaupt bereit war, eine solche Information zur Kenntnis zu nehmen?
Mertes: Dass Opfer kein Gehör finden, ist sicher ein gesellschaftliches Thema. Offenbar hat das erst reifen müssen. Die Vorarbeiten der Frauenbewegung sind hier ganz wichtig; dass Frauen schon vor 30 Jahren sexualisierte Gewalt gegen größte Widerstände öffentlich machten.
Frage: Sehr schnell ging es dann aber nicht nur um die betroffene Schule, sondern um Kirche als ganze?
Mertes: Ja, denn es wurde schnell deutlich, dass die nun bekanntwerdenden Missbrauchstaten ganz grundlegende Fragen aufwarfen, die auch an die Substanz des kirchlichen Selbstverständnisses gingen.
Frage: Gab es also spezifische kirchliche Bedingungen, die Missbrauch erst ermöglicht oder begünstigt haben?
Mertes: Zumindest steht die Frage im Raum, ob die Ordnung der zentralisierten und überhöhten Machtstrukturen in der Kirche missbrauchsbegünstigend ist. Zudem gibt es die Tendenz, jede Kritik an Priestern letztlich als Illoyalität zu deuten. Dadurch wurden Opfer immer wieder ins Schweigen hineingedrückt.
Frage: Sehen Sie auch Zusammenhänge mit der Art und Weise, wie Kirche ihre Sexualmoral vertritt oder vertreten hat?
Mertes: Ja, das Aufbrechen der jahrelangen Sprachlosigkeit im Bereich der Sexualität ist aus meiner Sicht das zweite ganz große Thema der Missbrauchsaufarbeitung. Zwar wird in der Kirche viel über Sexualität gesprochen, aber dass Menschen von sich in der ersten Person sprechen, von ihren eigenen Erfahrungen, das war und ist bis heute schwer. Wie viele Menschen dürfen beispielsweise nicht sagen, wie ihre wahren Verhaltensweisen und Lebensverhältnisse in diesem Bereich sind. Beginnend mit den gut katholischen Eltern, die künstlich verhüten und das ihren Kindern verschweigen.
Frage: Betrifft das auch den aktuell viel diskutierten Umgang mit Wiederverheirateten?
Mertes: Diese Fragen hängen mit dran. Da müssen ja auch Lebensverhältnisse vertuscht werden, zum Beispiel, damit man seinen Arbeitsplatz behält.
Frage: Ändert sich die Diskussion nun durch Papst Franziskus?
Mertes: Der Papst spielt eine sehr wichtige Rolle. Er weiß sehr genau, dass ein autoritäres System nicht autoritär verändert werden kann. Und deshalb macht er das, was wirklich verändert: Er öffnet die Debatte und lässt erstmals offene Diskussionen zu. Das ist ein großer Tabubruch, der auch daran deutlich wird, wie stark die Kräfte sind, die dagegen opponieren und nun richtig Angst bekommen, dass ihre Bastionen geschleift werden, hinter denen sie sich selbst verstecken.
Frage: Sie selbst waren massiven Anfeindungen ausgesetzt?
Mertes: Im Kern ging es fast immer um den Vorwurf der Nestbeschmutzung. Hinzu kamen Verleumdungen. Ich erhalte noch immer Hassmails. Aber ich habe mich da nie besonders mit befasst.
Frage: Und mancherorts waren Sie kein gern gesehener Gast?
Mertes: Tatsächlich hat es Auftrittsverbote gegeben. Pfarrer, die mich zunächst für einen Vortrag eingeladen hatten, mussten mich dann unter fadenscheinigen Begründungen wieder ausladen.
Frage: Wie ist das heute, fünf Jahre danach?
Mertes: Ich nehme weiterhin gerne Einladungen an.
Frage: Das prominenteste Gesicht der kirchenoffiziellen Aufarbeitung ist sicher der Trierer Bischof Ackermann. Wie bewerten Sie seine Arbeit als Beauftrager der Bischofskonferenz?
Mertes: Ich schätze ihn persönlich sehr. Bischof Ackermann ist derjenige Bischof, der für viele seiner Amtsbrüder die Kohlen aus dem Feuer geholt hat. Ich habe hohen Respekt vor seiner Leistung.
Frage: Woran zeigt sich diese?
Mertes: Er war und ist das Gesicht, das sich der öffentlichen Debatte stellt. Ganz viele Bischöfe stecken den Kopf in den Sand und wollen überhaupt nicht mehr darüber sprechen. Bischof Ackermann ist derjenige, der immer wieder ganz klar sagt, das Thema ist noch lange nicht zu Ende, damit keine Schlussstrichstimmung durchgreift. Auch in der Präventionsarbeit kommt sehr viel Unterstützung von ihm.
Frage: Zahlreiche kirchliche Akteure, in Gemeinden, Kindergärten, Schulen und Verbänden haben seit 2010 große Anstrengungen in Sachen Prävention unternommen. Sind sexuelle Übergriffe, beispielsweise in einer katholischen Schule, heute ausgeschlossen?
Mertes: Unmöglich ist Missbrauch leider nie. Täter finden immer Strategien. Ich bin aber sicher, dass Täter sich heute eher ungern auf unsere Schulen wagen würden. Aber mir ist wichtig, dass das Thema Prävention in allen Schulen weiter angepackt wird. Und nicht nur im Kolleg St. Blasien oder in der Odenwaldschule. Insgesamt ist Schule seit 2010 aber sehr viel sicherer geworden.
Frage: Auf welche weiteren Schritte hoffen Sie heute?
Mertes: Mit Blick auf die gesamte Kirche wäre ich froh, wenn es gelänge, die Macht zu dezentralisieren. Und das fängt bei der Spitze an, der Fisch stinkt vom Kopf her. Ein erster Schritt wäre es, die Ernennungsverfahren für Bischöfe zu verändern und dabei mehr Beteiligung zu ermöglichen. Weil es dabei ja genau um die Frage geht, wie Macht in der Kirche organisiert wird. Die katastrophalen Formen von Machtmissbrauch, die nach 2010 sichtbar geworden sind und zum Teil auch weitergegangen sind und weitergehen, bis hin zum Fall Limburg , sind nur vor dem Hintergrund völlig intransparenter Verfahren zu verstehen. Die männerbündische Struktur des Klerus spielt dabei auch eine wichtige Rolle - das Wir-Gefühl unter Klerikern, das sich nach außen abschottet. Da ist der strategische Punkt, an dem angesetzt werden muss.
Chronologie des Missbrauchsskandals
Januar 2010: Der damalige Leiter des Canisius-Kollegs der Jesuiten in Berlin, Pater Klaus Mertes, bringt die Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche ins Rollen.
22. Februar 2010: Die Bischöfe entschuldigen sich bei ihrer Vollversammlung in Freiburg wegen der Missbrauchsfälle. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann wird Sonderbeauftragter für Missbrauchsfälle. Eine Telefon-Hotline für Missbrauchsopfer wird eingerichtet.
12. März 2010: Erzbischof Zollitsch unterrichtet in Rom den Papst über die Missbrauchsfälle. Benedikt XVI. reagiert mit großer Betroffenheit.
31. August 2010: Die Bischöfe verschärfen ihre "Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch". Bei der umstrittenen Anzeigenpflicht gibt es einen Kompromiss: Erhärtet sich bei den Gesprächen zwischen potenziellen Opfern und den Missbrauchsbeauftragten der Verdacht auf sexuellen Missbrauch, so schreiben die Leitlinien das Einschalten der staatlichen Strafverfolgungsbehörden vor. Eine Ausnahme ist nur dann zulässig, wenn das Opfer ausdrücklich auf einen solchen Schritt verzichten will.
20. September 2010: Erzbischof Robert Zollitsch schlägt bei der Vollversammlung der Bischöfe in Fulda einen "breiten Reflektionsprozess" von Bischöfen, Priestern und Laien vor. Dabei solle es auch um das Bild des Priesters, den Umbruch in den Gemeinden, die Verantwortung der Laien, aber auch um die Sprache der Verkündigung und Fragen von Familie, Partnerschaft und Sexualität gehen.
23. September 2010: Die Bischöfe stellen ein Konzept zur Vorbeugung von sexuellem Missbrauch vor. Es sieht unter anderem vor, dass jedes der 27 Bistümer eine Stelle einrichtet, die sich um Präventionsfragen kümmert. Für haupt- und nebenamtliche Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendarbeit wird ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis gefordert.
30. September 2010: Die Bischofskonferenz legt am Runden Tisch in Berlin ein Konzept zur Entschädigung der Opfer von sexuellem Missbrauch vor. Dazu gehört die Zahlung eines Geldbetrags, der als "finanzielle Anerkennung" des zugefügten Leids gelten soll. Darüber hinaus soll es Opfern ermöglicht werden, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
2. März 2011: Die Bischofskonferenz nennt erstmals eine konkrete Summe von 5.000 Euro, die den Opfern als Anerkennung für ihr Leid ausgezahlt werden soll.
16. Mai 2011: Die vatikanische Glaubenskongregationen verpflichtet Bischofskonferenzen weltweit zur Erarbeitung von Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen. Schwerpunkte liegen auf der Zusammenarbeit mit staatlichen Justizbehörden, Hilfen für Opfer und Prävention.
8. Juli 2011: In Mannheim startet die Bischofskonferenz ihren bundesweiten Dialogprozess. Dazu kommen rund 300 Vertreter aus Diözesen, Orden, Hochschulen und Verbänden zusammen. Die bis 2015 angelegten Gespräche sollen der Kirche verloren gegangenes Vertrauen zurückbringen.
13. Juli 2011: Die deutschen Bischöfe kündigen zwei Forschungsprojekte zur wissenschaftliche Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche an.
15. August 2011: Die Bischofskonferenz gibt bekannt, ihre Hotline für Missbrauchsopfer länger als geplant offen zuhalten. Die Nummer solle nicht im September abgeschaltet werden, sondern bis Ende 2012 weiterbestehen.
23. September 2011: Papst Benedikt XVI. trifft während seines offiziellen Deutschlandbesuchs im Erfurter Priesterseminar mit Missbrauchsopfern zusammen. Er spricht mit drei Männern und zwei Frauen. Von ihrer Not "bewegt und erschüttert", bekundet er ihnen sein "tiefes Mitgefühl und Bedauern".
7. Dezember 2012: Die Ergebnisse des ersten Forschungsprojekts werden vorgestellt. Der Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen, Norbert Leygraf, kommt zu dem Schluss, dass katholische Priester, die Minderjährige missbraucht haben, in den seltensten Fällen in klinischem Sinne pädophil seien.
9. Januar 2013: Die Bischöfe beenden nach Differenzen die Zusammenarbeit mit dem Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer beim zweiten Forschungsprojekt zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Im Rahmen der Studie sollten sämtliche Personalakten von Geistlichen in den 27 deutschen Bistümern von 2000 bis 2010 gesichtet und Missbrauchsopfer befragt werden. Die Bischöfe kündigen an, die Studie mit einem neuen Partner fortzusetzen.
28. August 2013: Die Bischöfe schreiben die am 9. Januar vorläufig gestoppte Studie als "interdisziplinäres Forschungsverbundprojekt" neu aus.
24. März 2014: Die Bischofskonferenz gibt bekannt, dass sie einen Forschungsverbund von sieben Professoren um den Mannheimer Psychiater Harald Dreßing mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals beauftragt. (stz/KNA)