Als sich die "linken Frommen" in Essen trafen
Ältere erzählen gelegentlich noch davon, wehmütig oder schmunzelnd. "Hengsbach, wir kommen, wir sind die linken Frommen", skandierten "kritische Katholiken" am Abend des 4. September 1968. Schon bei der Auftaktkundgebung des Essener Katholikentags vor 50 Jahren war klar, dass es munter werden würde. Der gastgebende Ortsbischof Franz Hengsbach reagierte auf die Rufe in der Grugahalle: "Wenn Sie nicht nur links sind, sondern wirklich fromm, sind Sie wirklich herzlich willkommen."
Im unruhigen Jahr 1968 geriet das Laientreffen zu einem einzigartigen Moment. "Essen war anders", bilanzierte das Präsidium des 82. Deutschen Katholikentags im 660-seitigen Dokumentationsband. Vom "turbulentesten aller Katholikentage" sprechen Holger Arning und Hubert Wolf in ihrem 2016 erschienenen Jubiläumsband "100 Katholikentage".
Heftige Debatten über Politik, Kirche und Bundeswehr
Knapp zwei Wochen vor dem Essener Treffen waren die Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschiert. Auch kirchlich war der Sommer 1968 spannungsreich: Auf die Hochstimmung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) folgte die Enzyklika "Humanae vitae", mit der Papst Paul VI. faktisch die Pille verbot. Und - gerade noch rechtzeitig vor Essen: die distanzierte Antwort der deutschen Bischöfe, die "Königsteiner Erklärung".
"Mitten in dieser welt" lautete das Motto der Tage vom 4. bis 8. September 1968. So ging es den Teilnehmern längst nicht nur um Sexualmoral und Demokratie in der Kirche - mit Transparenten wie "sündig statt mündig", "gehorsam und neurotisch" oder "alle reden von der Pille - wir nehmen sie". Heftig debattierten sie auch Fragen der Familienpolitik, das Verhältnis der Kirche zum Staat, die Rolle von Bundeswehr und Militärseelsorge, weltweite Gerechtigkeit, die Lage der Arbeitswelt, Bildung und Demokratie. Gelegentlich nahmen junge Leute auch gleich auf dem Podium Platz.
Essen bot auch anderes Neues. Den lautesten Beifall erhielten die protestantischen Gäste. Das Treffen gab Impulse für das ökumenische Gespräch der Laien, es sorgte auch dafür, dass seitdem bei solchen Treffen auch Katholiken und Juden miteinander redeten. Bischöfe mischten sich unters Volk, allen voran der Vorsitzende Julius Döpfner. Erstmals gab es eine Katholikentagszeitung "K'68 - Aktuell" mit einer Abschlussauflage von 200.000 Stück. Und weil die "kritischen Katholiken" konterten, gab es gleich zwei.
Für die Sorgen und Nöte dieser Welt öffnen
"Dieser Katholikentag sollte uns deutsche Katholiken öffnen für die Sorgen und Nöte dieser Welt", sagte Katholikentags-Präsident Bernhard Vogel zum Abschluss vor 100.000 Zuhörern. "Diese Tage haben die erstrebte Konfrontation gebracht. Offen und ehrlich, oft hart und unerbittlich, leidenschaftlich und mitunter mitgerissen von der Heftigkeit vorgetragener Argumente, haben wir miteinander gearbeitet." Unter Deutschlands Katholiken herrschten "nicht trügerische Stille, nicht müde Weltabgewandtheit, nicht träges Beharren, sondern Wachheit, Aufbruch und der energische Wille" zum Engagement für Frieden, mit Menschen und Kirche.
Ein "Nationalkonzil" hatten Tausende Essener Diskussionsteilnehmer in Resolutionen verlangt. 1970 begann die Würzburger Synode der Bistümer in der Bundesrepublik. Schon 1969 hatten sich die basiskirchlichen Gruppen zusammengeschlossen. Im Mai diesen Jahres hockten sie - damals meist "kritische Katholiken", heute zwischen Ruhe- und Unruhestand - in Heppenheim zum Jahrestreffen zusammen. Sie waren Wegbereiter der weit später entstandenen Gruppierungen "Initiative Kirche von unten" und "Wir sind Kirche".