Es geht nicht nur um die Wiederverheirateten
Ein Jahr ist seit der Veröffentlichung von "Amoris laetitia" am 8. April 2016 vergangen. Ein Jahr, in dem eigentlich kein Bericht, kein Kommentar und kein Interview zum Nachsynodalen Schreiben des Papstes ohne sie auskam: die wiederverheirateten Geschiedenen. Eine Fußnote wurde zum Grund für zweifelnde Kardinäle, für den lauten Ruf nach Leitlinien und Handreichungen sowie für die ersten Veröffentlichungen von eben solchen. An dieser – medial geförderten – Schieflage ist sicher auch katholisch.de nicht unschuldig.
Doch "Amoris laetitia" ist mehr. Es ist nicht nur und nicht hauptsächlich ein Schreiben, das vom Scheitern handelt, sondern vom Gelingen. Und das ist eine große Herausforderung für Menschen, die sich trotz eines "anthropologisch-kulturellen Wandels" (AL 32) unter global sehr unterschiedlichen Voraussetzungen für das Konzept von Liebe, Treue, Vertrauen, ja auch Abhängigkeiten entscheiden. Papst Franziskus hat diese Komplexität im Blick, auch weil ihm die Sorgen seiner Gläubigen von Bischöfen und Kardinälen überall auf der Welt zugetragen wurden: Stress im Beruf und Zukunftsängste, Drogenabhängigkeiten und Gewalt, ein Überangebot an Freizeitmöglichkeiten, verwaiste Kinder und alte Menschen, Alleinerziehende und Polygamie.
Franziskus - Realist oder verkläter Romantiker?
Ja, es gibt genügend Probleme. Und es gibt das Scheitern. Dennoch ist es nicht falsch, sondern vielmehr geboten, das Ideal der christlichen, sakramentalen Ehe hochzuhalten und Menschen nach eben diesem Ideal streben zu lassen. Selbst wenn Franziskus dabei ab und an ein Familienbild konzipiert, das ihn wie einen verklärten Romantiker erscheinen lässt. Doch auch er weiß, dass es schwierig ist, "die Ehe vorrangig als einen dynamischen Weg der Entwicklung und Verwirklichung darzustellen und nicht so sehr als eine Last, die das ganze Leben lang zu tragen ist" (AL 37).
Deshalb ermuntert der Papst die Gläubigen, sich dem Ideal mit kleinen Schritten zu nähern. Sein Ausgangspunkt ist die Liebe (AL 89): "Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand." Das Paulus-Zitat aus dem Korintherbrief ist auch für viele Ehepaare Ausgangspunkt – nämlich als Bibelstelle im eigenen Traugottesdienst.
Doch ist man sich dieser Worte auch im ehelichen Alltag noch bewusst? Und was folgt draus? Was bedeutet Langmut? Es bedeutet für den Papst nicht, sich ständig schlecht behandeln zu lassen oder physische Aggressionen hinzunehmen. Es bedeutet aber auch nicht, dass die Beziehungen himmlisch oder die Menschen vollkommen sind. Einen ähnlich differenzierten Blick wirft er auf die Güte und Vergebung, auf Eifersucht und Neid, auf Glaube und Hoffnung.
Der Papst zeichnet in "Amoris laetitia" einen Weg durch die Ehe nach, in dem er seine jahrzehntelange Erfahrung aus der Seelsorge einfließen lässt. Er betont, wie wichtig der Dialog und das Zuhören sind. Nicht immer müsse der Partner dabei eine Lösung für das Problem bieten. Er spricht vom hohen Wert der Leidenschaft, der Emotionen, des Genusses und schließlich auch von der Erotik in der ehelichen Liebe sowie der Erziehung von Kindern. Es sind Worte, die es sich zu lesen lohnt, weil sie so anders klingen. Weil sie kein Ratgeber dafür sind, den ohnehin schon schnelllebigen Alltag noch zu optimieren, sondern dafür, ihn auszubremsen.
Familie als Hauskirche und Krankenhaus
Die Spiritualität spielt für Franziskus dabei eine große Rolle, vor allem das Gebet in der Familie. Täglich solle man sich ein paar Minuten Zeit nehmen, um dem Herrn "die Dinge zu sagen, die Sorge bereiten, zu bitten um das, was die Familie braucht, zu beten für jemanden, der einen schwierigen Moment durchmacht, von Gott die Hilfe zu erbitten, um lieben zu können" (AL 318). Den Höhepunkt dieses Gebetsweges in der Familie bildet für den Papst dann die gemeinsame Teilnahme an der Eucharistie. Doch Spiritualität hat für ihn auch noch eine andere Dimension. Familie ist in seinen Augen nicht nur Hauskirche, sondern auch Krankenhaus. "Pflegen wir einander, stützen wir einander, spornen wir uns gegenseitig an", verlangt er.
Der Papst gibt viele gute Ratschläge für den Alltag, kommt aber auch auf das zu sprechen, was im Jahr nach "Amoris laetitia" bisher viel zu kurz gekommen ist: Die Frage nach der Rolle der Kirche beim Gelingen von Ehe und Familie. Den wichtigsten Beitrag liefert in seinen Augen die Pfarrgemeinde, die eine "Familie von Familien" sei. Seelsorger würden dagegen häufig nicht gut genug auf die aktuellen Herausforderungen von Familien vorbereitet (AL 202). Inhaltlich mahnt der Papst vor allem eine bessere Ehevorbereitung und Ehebegleitung in den ersten Jahren an.
Linktipp: Biesinger kritisiert einseitige Berichterstattung
Das Wort der deutschen Bischöfe zu "Amoris laetitia" hat nicht nur wiederverheiratete Geschiedene zum Thema. Der Religionspädagoge Albert Biesinger merkt an, dass andere Gruppen wichtiger seien. (Artikel von Februar 2017)Gerade dieses sechste Kapitel des päpstlichen Schreibens könnte auch noch einmal ein Weckruf für die Katholiken in Deutschland sein. Denn es klafft eine große Lücke zwischen dem noch immer vorhandenen Versorgungsdenken eines Großteils der kirchlichen Basis und der Realität, die aus Pfarreifusionen und einem Rückgang von hauptamtlichen pastoralen Mitarbeitern besteht. Teilweise ist es den Gläubigen zwar nicht zu verübeln. Denn wo gibt es noch ähnliche kirchliche Strukturen wie in Deutschland mit den zahlreichen Angeboten der Ehe- und Familienberatung, mit entsprechenden Fachverbänden, mit katholischen Kindergärten und Schulen?
Jeder einzelne Gläubige ist gefragt
Aber der Papst verlangt mehr von den Gläubigen und der ganzen christlichen Gemeinde – auch und gerade in der Familienpastoral. Zeugnis sollen die erfahreneren Gemeindemitglieder in der Ehevorbereitung für junge Paare geben (AL 208) und sie auf ihrem Weg begleiten. Zugleich seien besondere Kurse zur unmittelbaren Vorbereitung der Eheschließung notwendig, "die eine wirkliche Erfahrung der Teilnahme am kirchlichen Leben sein sollen und die unterschiedlichen Aspekte des Familienlebens vertiefen". Auch hier ist jeder Katholik gefragt. Dabei bemüht sich der Papst, die Balance zu halten: Die Fortbildung solle angemessen sein, dürfe die jungen Menschen aber zugleich nicht vom Sakrament fernhalten (AL 207). "Weder geht es darum, ihnen den gesamten Katechismus beizubringen, noch darum, sie mit allzu vielen Themen zu übersättigen", so der Papst. Die Idee dahinter ist einfach: Gelebter Glaube überzeugt junge Menschen mehr und erreicht sie besser als das bloße Sprechen darüber.
Umso erstaunlicher ist es, dass bisher so viel über "Amoris laetitia" gesprochen wird, statt danach zu handeln. Dabei richtet sich der Papst ganz konkret an alle Gläubigen: an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens, an die christlichen Eheleute und an alle christgläubigen Laien. Warten wir nicht weiter auf Handreichungen und Leitlinien. Der Papst selbst gibt die Richtung vor: "Verzweifeln wir nicht an unseren Begrenztheiten, doch verzichten wir ebenso wenig darauf, nach der Fülle der Liebe und der Communio zu streben, die uns verheißen ist."
Der Text ist erstmals am 19. März, dem Tag der Untereichnung des Schreibens, erschienen.