Der Papst und seine Kritiker
Es ist gut zwei Monate her, dass Papst Franziskus in einer eindringlichen Predigt vor "dem Virus der Polarisierung und der Feindschaft" warnte. Es würde aktuell "als einzige Möglichkeit zur Lösung von Konflikten seuchenartig wieder aufleben", sagte er während der Ernennung neuer Kardinäle im Vatikan. Gewiss sprach er in diesem Fall nicht über die Kirche und erst recht nicht über sich selbst. Stattdessen hatte er die großen Sorgen und Nöte dieser Welt im Blick: Kriege, Flucht, Hunger.
Zur Schau gestellte Demut?
Und doch ist auch Franziskus ein Mann, der polarisiert. Begonnen hat das bereits am Tag seiner Wahl zum Oberhaupt der katholischen Kirche. Mit einem schlichten "Buona Sera!" und in ebenso schlichtem weißen Gewand betrat der Argentinier die große Kirchenbühne und gab damit gleichzeitig sein "Regierungsprogramm" für die kommenden Jahre vor: Einfachheit und Bescheidenheit, Nähe zum Volk und zum Evangelium – selbst dann, wenn Riten und Traditionen darunter leiden müssen.
So zog Franziskus etwa nicht – wie seine Vorgänger es Jahrhunderte lang taten – in den dafür vorgesehenen Apostolischen Palast, sondern blieb nach dem Konklave direkt im Domus Sancta Marta, dem vatikanischen Gästehaus, wohnen. Er trägt schwarze statt rote Schuhe, fährt im Fiat statt in der Limousine oder veranstaltet ein Geburtstagsessen mit Obdachlosen statt mit der Kurie. Kritiker werfen ihm zur Schau gestellte Demut und Bescheidenheit vor. Darüber hinaus würde ein Gegensatz zwischen Franziskus und seinen Vorgängern konstruiert. Der "Bergoglio-Style" dürfe nicht mit Askese verwechselt werden, sagt etwa der konservative Schriftsteller Martin Mosebach. "Und selbst wenn Franziskus Asket wäre, möchte ich davon auf keinen Fall in den Massenmedien erfahren. Askese hat ihren Wert vor allem im Verborgenen."
In der Tat wäre das Prahlen mit dem einfachen Leben und den guten Taten ein Problem. "Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen; sonst habt ihr keinen Lohn von eurem Vater im Himmel zu erwarten", heißt es bereits im Matthäusevangelium (Mt 6,1). Doch ist dieser Vorwurf aus der Luft gegriffen. Nicht der Papst ist es, der mit seinem einfachen Leben hausieren geht. Vielmehr ist er eine Person des öffentlichen Lebens, deren Taten nur schwerlich im Verborgenen gehalten werden können. Begründet der Papst sein Tun dann einmal selbst, wird schnell deutlich, dass es um mehr als den reinen Verzicht geht. Er wolle "inmitten der anderen Mitglieder der Geistlichkeit wohnen", sagte er zu seinem Verbleib im Gästehaus. Und auf eine gepanzerte Limousine verzichte er, weil "ein Bischof ein Pfarrer, ein Vater ist und es nicht zu viele Barrieren zwischen ihm und den Menschen geben kann".
Dass sich Franziskus trotz allem aber eine arme Kirche für die Armen wünscht, dürfte niemandem verborgen geblieben sein. Und damit macht er sich in den eigenen Reihen nicht nur Freunde. Denn einerseits teilen nicht alle kirchlichen Würdenträger dieses Motto. Und andererseits schauen Gläubige wie Medien jetzt noch genauer hin, wenn diesem dann zuwider gehandelt wird. So löste der ehemalige Kardinalstaatssekretär, Kardinal Tarcisio Bertone, einen mittelschweren Skandal aus, als er eine neue 300-Quadratmeter-Wohnung in bester Lage bezog. Dass er sie darüber hinaus noch mit Geldern aus einer Stiftung finanzierte, die eigentlich für die vatikanische Kinderklinik "Bambino Gesu" gedacht waren, machte den Gau perfekt.
Papst Franziskus schafft Fakten
Die Kritiker könnten es dennoch verschmerzen, würde es bei den mehr oder weniger symbolischen Gesten des Papstes bleiben. Zumal sie die Kirche in ein positives Licht rücken, ohne ihre Fundamente nur ansatzweise anzutasten. Doch Franziskus tut noch mehr. Er schafft Fakten – und das auch noch, bevor er sie in irgendeiner Art und Weise rechtlich legitimiert. Beispiel: Fußwaschung. Kurz nach seiner Wahl feierte er in der Kapelle des römischen Jugendgefängnis Casal del Marmo die Gründonnerstagsmesse. Er wusch zwölf Häftlingen die Füße – unter ihnen zwei Frauen. Der damalige Vatikansprecher Federico Lombardi wiegelte ab. Der Papst habe keinesfalls das Kirchenrecht brechen wollen. Es habe sich lediglich um eine Ausnahme gehandelt. Knapp drei Jahre später öffnete er den Ritus dann offiziell. Ähnliches gilt für die Annullierung von Ehen. Zunächst begnügte sich Franziskus mit dem Hinweis, das Ehenichtigkeitsverfahren solle doch großzügiger angewendet werden. Später vereinfachte er es.
Bei allem, was Franziskus tut, erweist er sich immer auch als Pragmatiker. Deshalb haben sich die "Befürchtungen" konservativer Katholiken, dass mit der Zulassung von Frauen zur Fußwaschung auch eine solche zum Priesteramt einhergehen könnte, bisher nicht erfüllt. Fernab der theologischen Herausforderungen weiß der Papst, dass der Aufwand und die Widerstände in keinem Verhältnis zum effektiven Nutzen stünden – so schmerzhaft es für die eine oder andere Berufene auch klingen mag. Stattdessen prüft Franziskus, was es mit dem Diakonat der Frau auf sich hat und inwieweit sich "viri probati", also verheiratete Männer, für das Priesteramt eignen.
Einer der Vorwürfe, der sich jedoch am hartnäckigsten hält, ist der, dass die Worte und Taten des Papstes unklar seien. Bei einem Abgleich mit den Fakten stellt man jedoch das Gegenteil fest: Franziskus ist recht deutlich, in dem was er sagt und tut. Und zwar nicht nur was das Frauenpriestertum angeht. Er setzt sich vorbehaltlos für Familien, den Lebensschutz und Flüchtlinge ein, übt heftige Kritik am erstarkenden Rechtspopulismus oder kämpft für die Einheit der Christen.
Zwischen sexueller und eucharistischer Enthaltsamkeit
Nur mit Blick auf das Papstschreiben "Amoris laetitia" und dessen berühmte Fußnote 351 bleibt der Papst anscheinend unklar. So lautet zumindest der Vorwurf des US-Kardinals Raymond Leo Burke und seiner drei Amtsbrüder, die sich in einem kritischen Brief an Franziskus gewandt hatten. Dürfen wiederverheiratete Geschiedene nun zur Kommunion oder nicht? Doch auch hier ist der Papst ganz Pragmatiker. Bereits vor den beiden Familiensynoden, die 2014 und 2015 stattfanden, haben weltweite Umfragen unter Katholiken ergeben, dass die Kluft zwischen der Lehre der Kirche und dem Leben der Menschen beinahe unüberwindbar groß ist – vor allem mit Blick auf die Sexualmoral. Die Vorgabe, sich in einer zweiten Zivilehe zwischen sexueller oder eucharistischer Enthaltsamkeit entscheiden zu müssen, schlägt sicher keine Brücke.
Also versucht Franziskus nun beides behutsam in Einklang zu bringen – auch wenn es auf Kosten eines klaren "Ja" oder "Nein" für die Zulassung Wiederverheirateter geht. Doch gerade darin zeigt sich der vielleicht größte Paradigmenwechsel, den der Papst bisher vollzogen hat. Und der die Kritiker stärker verunsichert als eine Änderung eines Kirchenrechtsparagraphen. "Amoris laetitia" ist das Zünglein an der Waage. Franziskus verändert nichts und doch wird alles anders: kein Verstecken mehr hinter dem Gesetz, kein letztes Unterteilen von Handlungen in "richtig" oder "falsch". Statt auf eine normative Vorstellung von Moral setzt der Papst auf die Tugend der "Epikie". Heißt: Wie verhält man sich in konkreten Situationen, die der Gesetzgeber nicht vorhersehen konnte, richtig? Das ist eine Herausforderung für die Seelsorger vor Ort, die Angst machen kann. Aber wer wenn nicht sie sind dazu befähigt, die betroffenen Gläubigen auf ihrem Weg zu begleiten? Denn sie sind Hirten, Väter - genau wie der Papst.