Der Professor und der Papst
Darin sieht Ratzinger Spielräume – und kommt zu dem Schluss, unter bestimmten Bedingungen könnten auch zivil Geschiedene, die in einer neuen Beziehung sind, zur Kommunion zugelassen werden. Diese Schlussfolgerung fehlt nun in der Fassung, die in den Gesammelten Werken des späteren Papstes Benedikt XVI. abgedruckt wird. In diesen Tagen erscheint deren vierter Band.
Zu Beginn sind die Textfassungen von 1972 und 2014 noch bis in die Fußnoten wortgleich: Die kirchengeschichtliche Herleitung arbeitet sorgfältig und detailreich Quellen ab – über die Kirchenväter in der frühen Kirche, die erste kirchenrechtliche Systematisierung durch Gratian im 4. Jahrhundert zur Diskussion im 16. Jahrhundert, als das Konzil von Trient sich mit den durch Martin Luther aufgeworfenen Fragen zur Ehelehre beschäftigte. Erst gegen Ende fügt Benedikt Detail-Änderungen ein, um noch deutlicher herauszustellen, was die "unzweideutigen Worte des Herrn [der Kirche] sagen".
Die eigentlichen Unterschiede zwischen den beiden Textfassungen kommen am Ende in den Schlussfolgerungen: Gleich geblieben ist das deutliche Festhalten an der Unauflöslichkeit der Ehe im ersten Teil. Der zweite Teil wurde jedoch vollständig ausgetauscht, nur der erste Satz bleibt halb stehen: Zitiert wird die "Hartherzigkeit" der Männer, die Moses anführt, um Ehescheidungen zu rechtfertigen.
1972: Zweitehe als "sittliche Realität"
1972 ist für Ratzinger klar, dass die Kirche ihr "konkretes Leben oft genug ein Stück unterhalb des Schriftwortes" beginne. Er verweist auf Notsituationen, die Ausnahmen zulassen, um Schlimmeres zu vermeiden. Eine solche sei bei einer gescheiterten Ehe unter bestimmten Bedingungen gegeben: Die Ehe muss "seit langem und in einer für beide Seiten irreparablen Weise zerbrochen" sein, die darauf folgende Zivilehe "sich über einen längeren Zeitraum als sittliche Realität" bewährt haben und mit dem "Geist des Glaubens" erfüllt sein. Dann könne der Pfarrer der Gemeinde eine Zulassung zur Kommunion gewähren.
Ratzinger betont dabei das außergerichtliche Verfahren und sieht die kirchlichen Ehenichtigkeitsprozesse eher kritisch. Zu formal seien sie, zu wenig Chancengerechtigkeit gebe es – er spricht die erforderliche Bildung wie die nötigen finanziellen Mittel an –, zu wenig sei der ganze Mensch im Blick. Mit Blick auf die Kirchengeschichte stellt Ratzinger fest, die "Eröffnung der Kommunionsgemeinschaft" scheine "nach einer Zeit der Bewährung nicht weniger als gerecht und voll auf der Linie der kirchlichen Überlieferung". Auch die unbestrittene Unauflöslichkeit der Ehe stehe dem nicht entgegen: "Die Kommunionsgemeinschaft der Kirche" könne "auch jene Menschen umspann[en], die diese Lehre und dieses Lebensprinzip anerkennen, aber in einer Notsituation besonderer Art stehen, in der sie der vollen Gemeinschaft mit dem Leib des Herrn besonders bedürfen."
2014: Das Nichtigkeitsverfahren im Vordergrund
In der neuen Fassung taucht das alles so nicht mehr auf, stattdessen macht Benedikt nun das Nichtigkeitsverfahren stark. Auch die neue Fassung beginnt mit einem Verweis auf die Herzenshärte, von der Jesus in Matthäus 19,8 spricht: Mose habe die Ehescheidung nur erlaubt wegen der Herzenshärte der Männer. Argumentiert Ratzinger im alten Text noch damit, dass die Kirche angesichts der Realität nicht immer alle ihre Prinzipien und Grundsätze voll verwirklichen könne, so deutet der neue Schluss die Stelle anders: Angesichts einer allgegenwärtigen "Verdünnung des Glaubens" – ein häufiges Motiv beim späten Ratzinger – müsse die Kirche zuerst und wesentlich "den Glauben lebendig und stark" machen, dabei aber "die Grenze und Weite der Worte Jesu ausloten".
Benedikt versteht darunter vor allem eine klare juristische Lösung; er diskutiert im Folgenden angelehnt ans Kirchenrecht und dessen Entwicklung. Von einer "sittlichen Realität" einer zweiten Beziehung ist nicht mehr die Rede, der Weg zur Zulassung zur Kommunion ist die Annulierung der ersten Ehe. Die frühere, annulierungskritische Position wird damit revidiert, wenn er auch große Sorgfalt anmahnt, um nicht durch die Hintertür eine "verkappte Ehescheidung" einzuführen. Die Argumentation kreist dabei immer um die Verdunstung des Glaubens: Das nötige Glaubenswissen, um eine gültige christliche Ehe mit allen ihren Konsequenzen einzugehen, sei kaum mehr vorhanden, viele seien zwar getauft, aber eigentlich keine Christen – Benedikt spricht von "getauften Heiden".
Im Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen sieht Benedikt vor allem die Pastoral am Zug, "damit sie die Liebe der Kirche wirklich spüren können". Pastoral soll auch die Lösung sein, die zum Zug kommt, wenn eine Annulierung nicht möglich ist: Benedikt beklagt, dass zu viele leichtfertig zur Kommunion träten und daher diejenigen, die das nicht tun "gleichsam öffentlich als Christen disqualifiziert" würden. Eine intensivere Gewissensprüfung "die auch zum Verzicht auf die Kommunion führen kann, würde uns die Größe des Geschenks der Eucharistie neu erfahren lassen und auch eine Art von Solidarität mit den geschiedenen Wiederverheirateten darstellen". Den Betroffenen empfiehlt Benedikt, zwar bei der Kommunion mit vorzutreten, aber "die Hände auf die Brust [zu] legen und so zu erkennen geben, dass sie das heilige Sakrament nicht empfangen, aber um einen Segen bitten".
Der Vergleich der beiden Texte zeigt eine deutliche Akzentverschiebung: Was 1972 noch möglich schien – die Anerkennung einer "sittlichen Realität" der zweiten Beziehung – wird 2014 nicht mehr erwähnt. Was 2014 angesichts eines verdunstenden Glaubens Gebot der Stunde ist – sorgfältig durchgeführte Ehenichtigkeitsverfahren – wurde 1972 noch als nicht praktikabel verworfen. Dabei überrascht die gewählte Form: Die Argumente, die dogmengeschichtliche Herleitung im ersten Teil bleiben unverändert, die Schlussfolgerung wird ins Gegenteil verkehrt. Eine Erklärung gibt die nun erschienene Fassung dafür nicht.
Von Felix Neumann